Detlef Rönfeldt

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Die Liebenden vom Alexanderplatz

 
In ihrem Buch über Inge Meysel (Inge Meysel – Ihr Leben, Hamburg: Europa Verlag 2003) widmet Sabine Stamer den Dreharbeiten zu diesem Film ein ganzes Kapitel. Hier sind Auszüge daraus – mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

Abschiedsfilm – Ohne viel Worte und große Gesten

„ [...] Die Liebenden vom Alexanderplatz“ heißt der Film, der sie noch einmal vor die Kamera und in ihre Geburtsstadt Berlin bringt. Ausgestrahlt vom ZDF im Januar 2002, wird es vermutlich ihre letzte große Rolle sein, ihr ‚Abschiedsfilm‘, sagt sie selbst – nicht zum ersten Mal, aber diesmal sieht es so aus, als würde es zutreffen. Ein würdiger Abschiedsfilm, dessen Geschehen sie nicht nur in das Berlin ihrer Jugend zurückführt, sondern auch nach New York, in die Metropole, die sie immer bewundert hat, wo sie gern Karriere gemacht hätte, wenn, ja wenn eben alles anders gekommen wäre.

Die Geschichte der „Liebenden vom Alexanderplatz“ birgt viel Parallelen zu ihrem eigenen Leben und weckt Erinnerungen. Inge Meysel ist Ruth Levenstein, eine 90-jährige jüdische Emigrantin, die vor dem Hitler-Regime aus Berlin nach New York geflohen ist und nun mit Tochter und Schwiegersohn in Manhattan lebt. Nach 60 Jahren kehrt sie erstmals zurück in die deutsche Hauptstadt, begleitet von ihrer Enkelin Sarah (gespielt von Johanna Christine Gehlen). Für Inge bedeutete diese Rolle eine Reise in die Vergangenheit als verfolgte ‚Halbjüdin‘, eine Wiederbelebung der eigenen Biografie und ihrer späteren Verarbeitung.

Ihr ewiges Misstrauen stamme aus der Nazi-Zeit. ‚Seit jenen Jahren traue ich nur noch mir‘, sagt sie bei der Vorstellung des Films. Spät gesteht Ruth Levenstein in diesem Film ihrer Tochter, dass deren Vater in Wahrheit ein deutscher Wehrmachtssoldat, ein ‚Arier‘ ist, und bereitet damit auch Inge persönlich Kopfzerbrechen. ‚Ich habe immer im Bett gelegen und gedacht, was wäre das für ein Unterschied, wenn sich herausstellte, dein Papa war gar  nicht dein Papa, deine Mama hat ihn betrogen mit einem Arier.‘ Dass ihr Jule-Pa nicht ihr Vater sein könnte, ist für sie ein unerträglicher Gedanke. ‚Meinen Vater habe ich mehr geliebt als meine Männer. Wenn ich ehrlich bin, ist der ewige Mann in meinem Leben mein Vater gewesen. Im Grunde habe ich alle Männer, die ich hatte, betrogen mit meinem Vater.‘

Regisseur Detlef Rönfeldt, ursprünglich skeptisch angesichts der Besetzung, vor allem wegen des branchenbekannten ‚Meyselns‘, wird durch diesen Film zum ‚Meysel-Fan‘. Wie er sagt. Man spürt, er hatte seine Vorbehalte, war sich vor den Dreharbeiten keineswegs sicher, ob es ihm gelingen würde, die 91-jährige Schauspielerin dazu zu bringen, die „Fassade zu durchbrechen und ihre schauspielerische Potenz wirklich einzubringen, um eine Figur zu spielen und  nicht immer nur Inge Meysel zu sein.‘

Doch dann gibt es während des Drehs Momente, wo er ‚den Tränen nahe‘ ist angesichts ihrer Glaubwürdigkeit, Wie schon so mancher andere vor ihm stellt er fest, dass sie dann am besten ist, wenn sie sich selbst schwach fühlt: ‚Es gab wunderbare Momente in der Arbeit mit ihr, wenn sie wirklich physisch am Ende ihrer Kraft war.“ Einmal bricht während der Mittagspause ein Teil ihres Gebisses. Die Zähne werden notdürftig gerichtet. Inge nimmt das fürchterlich mit. ‚Jetzt ist Schluss, jetzt ist es vorbei, jetzt geht es nicht mehr‘, denkt sie, doch gerade in diesem Augenblick ist Rönfeldt von ihrer Leistung begeistert. ‚Die schönst Szene des ganzen Films habe ich unmittelbar danach mit ihr drehen können, denn da war alles von ihr abgefallen. Ich hatte plötzlich einen ganz kleinen Menschen vor mir in seiner Nacktheit und Unmittelbarkeit. Das hat mich sehr gerührt. Da scheint sie gar keine Kraft mehr gehabt zu haben, sich noch hinter irgendeinem öffentlichen Bild zu verstecken. Durch den Zufall dieses Gebiss-Schadens habe ich etwas erreicht, wovon ein Regisseur oft träumt: einen sehr authentischen Menschen vor sich zu haben und nicht einen Schauspieler.‘

Auch die Kritiker registrieren, dass die Meysel auf ihr berühmt-berüchtigtes Gebaren über weite Strecken verzichtet: ‚Kaum etwas ist zu sehen bei dieser emotionalen Filmreise in die Vergangenheit vom berühmten Meyselschen ‚Overacting‘. Keine großen Gesten, keine Aufgeregtheiten, keine Posen‘, heißt es da voller Anerkennung. Und an anderer Stelle lobt man: „Wenn sie das Auftrumpfende der Ich-bin-doch-nicht-senil-Greisin weglässt, sondern eine zerbrechliche alte Frau spielt, die trotz ihrer Lebenserfahrung noch offen ist für Neues, dann berührt ihr Spiel stärker, ohne viel Worte.‘

Angesichts des Lobes für ‚Die Liebenden vom Alexanderplatz‘ zeigt sich Inge ihrerseits keineswegs gerührt. Sie erklärt ihr zurückhaltendes Spiel ganz pragmatisch: ‚Kinder, wisst ihr, ich kann mir einfach nicht mehr so viel Text merken. Wenn ich eine längere Passage hatte, habe ich den Regisseur gebeten: Mach mir doch zwei Sätze draus.‘ Tatsächlich fällt es ihr zunehmend schwerer, sich die Texte zu merken. Aus Angst, nicht alles behalten zu können, bekniet sie den Regisseur immer wieder, zu streichen und zu kürzen, Wer sich den Film mit kritischen, geschulten Augen anschaut, dem wird auffallen, dass es mehr Zwischenschnitte gibt als üblich, dass ihre Blicke manchmal suchend zu Texthilfetafeln außerhalb des Bildes wandern,

‚Ich glaube, sie hat sehr darunter gelitten, dass sie nicht mehr so perfekt war, wie sie es von sich selbst erwartet hätte‘, meint Detlef Rönfeldt. ‚Das muss für sie eine Quelle großer Trauer gewesen sein.‘ Während alle die Kraft und die Intensität, die sie mit ihren 91 Jahren noch an den Tag legt, bewundern, wird es für Inge Meysel sicherlich eine bittere Erkenntnis gewesen sein, dass nun tatsächlich der Punkt erreicht ist, wo sie ihren eigenen Ansprüchen nicht mehr gerecht wird.

Johanna Christine Gehlen, die Enkelin im Film, von Inge nie beim Namen genannt, sondern immer nur als ‚die Junge‘ tituliert, hat keinen leichten Stand neben der ‚starrköpfigen‘ Prominenten. Rund 60 Jahre jünger als Inge, unter ganz anderen Bedingungen aufgewachsen, ist sie es nicht gewohnt, von einer Partnerin ständig gegängelt und geschurigelt zu werden. ‚Sie ist ein unglaublich starker Mensch mit einer unglaublich stark ausgeprägten Persönlichkeit‘, bemerkt Gehlen, ‚das ist auch die Faszination, die von ihr ausgeht, sie ist ganz extrem bei sich, nichts lenkt sie von ihrem Weg ab. Die ist so bei sich, dass man, wenn man neben ihr ist und neben ihr spielt, überhaupt nicht auf sie zählen kann. Die ist nie Partner beim Spielen, sondern: Sie ist, wie sie ist, und du kannst als Spielpartnerin gucken, wo du bleibst. Wenn man neben so jemandem spielt, dann bleibt einem gar nichts anderes übrig, als auch ganz bei sich zu sein. Das kann man lernen, aber es ist natürlich ein verdammt hartes Lernen.‘

Inge stichelt und meckert gegen Gehlen, steigert sich zu guter Letzt wieder in eines ihrer Lieblingsgerüchte hinein, nämlich der Regisseur und die junge Schauspielerin hätten ein Verhältnis. Das allein scheint ihr zu erklären, warum Rönfeldt sich nicht ausschließlich mit ihr beschäftigt und auch der anderen mal eine Großaufnahme gönnt. Gehlen muss oft tief Luft holen, um noch spielen zu können, was der Film verlangt: nämlich die innige Liebe zwischen Enkelin und Großmutter. ‚Du  kannst machen, was du willst‘, nimmt sie sich ganz fest vor, ‚du kriegst es nicht hin, dass meine Sarah deine Ruth nicht liebt. Wenn sie mich gemaßregelt hat, habe ich mich nicht beirren lassen, habe einfach an dieser Liebe zu ihr festgehalten. Und ich habe sie sehr geliebt. Ich glaube nicht, dass sie mich wirklich geliebt hat als Enkelin.“

Ständig trägt Gehlen ein Kinderbild von sich und ihrer wirklichen Großmutter bei sich, was hilft, die positiven Gefühle aufrechtzuerhalten. ‚Es war hinterher das größte Lob zu hören‘, stellte sie fest, ‚ dass man mir diese Liebe in dem Film glaubt. Es war einfach ein menschlicher Erfolg für mich, das mit dieser Frau, dieser Persönlichkeit zu schaffen.‘

‚Sie kann zauberhaft sein, aber sie kann auch biestig sein‘, bringt es der Regisseur auf den Punkt. Doch das merkt man nur im Off. Auf dem Bildschirm beweist Inge Meysel mit diesem letzten Film noch einmal, was sie eigentlich sein könnte: eine große Charakterdarstellerin nämlich – wenn sie sich nicht selbst davon abhielte. Je älter sie wird, desto häufiger lässt sie sich von Regisseuren, die nicht einfach auf den Erfolg des Meyselschen Abziehbildes setzen, ungewohnte Töne entlocken. Und so stellt Detlef Rönfeldt fest, was auch John Olden sofort spürte: ‚Sie hat das Potenzial, alles zu spielen. Ja, das hat sie.“

(Aus: Sabine Stamer: Inge Meysel – Ihr Leben, Hamburg: Europa Verlag 2003, Taschenbuchausgabe: Bergisch-Gladbach: Bastei Lübbe Nr. 61 565, Juli 2004, S. 265 - 270 )