Detlef Rönfeldt

 

 

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DIE ZEIT, 9. Oktober 1987

Kein Fall von Geringfügigkeit

 

Über Hans Werner Kettenbach, seinen Roman „Schmatz oder Die Sackgasse“ und die Frage, warum nicht alles ein Krimi ist, was so aussieht

Am Anfangs steht eine Mordphantasie, am Ende liegt eine Leiche im Stadtpark, die Polizei hat das letzte Wort. Ein Kriminalroman also. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. In seinem jüngsten, seinem siebten Roman, „Schmatz oder Die Sackgasse“, erzählt Hans Werner Kettenbach die Geschichte einer beruflichen Konfrontation mit tödlichem Ausgang. Ort der Handlung: die Werbeagentur „VB & Partner, Communications“. Zwei Männer im Clinch: auf der einen Seite Uli Wehmeier, Mitte Dreißig, verheiratet, ein Kind, Werbetexter mit ungewöhnlichen Qualitäten und ungewöhnlicher Vergangenheit, auf der anderen Kai Nowakowski, „Creative Director“, Anfang Vierzig, schwul.

„Schmatz“, der Titel des Romans ist zugleich der ironisch-lautmalerische Markenname, den Uli Wehmeier erfindet, als er kurzfristig auf eine Werbekampagne für Hundefutter angesetzt wird. Er stampft in wenigen Tagen eine Konzeption aus dem Boden, die selbst seinem Widersacher Nowakowski Respekt abnötigt. Es scheint, als könne Wehmeier die Bedrohung seiner beruflichen Existenz noch einmal abwehren. Aber die Lage spitzt sich schnell zu; Wehmeier, dessen Phantasie sich glänzend bewährt bei der Werbung für Hundefutter, Sparkassen oder den Spitzenkandidaten einer politischen Partei, reagiert auf seine Weise: Er spielt mit dem Gedanken an Mord an seinem Vorgesetzten.

Nowakowskis realer Tod ist der Höhe­punkt, den der Autor weit ausholend auf verschlungenen Wegen ansteuert. Er lässt sich viel Zeit dabei: Ausführ­lich breitet Kettenbach die private Misere von Uli Wehmeier aus (dessen Frau Marion samt Sohn die gemeinsame Wohnung verlässt), seine Beziehung zur Kollegin Christel Sommer (die platonisch bleibt), die Begegnung zwischen Wehmeier und seiner Ex-Freundin Dörte (mit der er, während des Studiums, „in Frankfurt das Pflaster rausgerissen“ hat), die Lebens­umstände von Kai Nowakowski (der – auch er – Beziehungs­probleme hat), Einzelheiten der Werbekam­pagnen, die sich als roter Faden durch das Buch ziehen. Ein Bündel von Geschichten, die – jede für sich – genug Stoff für einen ganzen Roman böten. Man tut gut daran, sich bei Kettenbach nicht allzu sicher zu fühlen. Der Autor reicht dem Leser die Hand, zieht ihn hinein in die Struktur des Textes – und erweist sich als Fallen­steller. Es stimmt zwar: Das Uhrwerk, das Kettenbach schon mit den ersten zupackenden Sätzen effektvoll in Gang setzt, läuft ab mit eigener, scheinbar unerbitt­licher Logik. Sein Ticken bleibt hörbar, während wir lesen, ein Lektüre­horizont, der unsere Erwartungen steuert. Vor diesem Hintergrund macht Kettenbach jedoch schnell klar, dass es ihm um ganz andere Dinge geht. Und die Tat am Ende, so zwingend sie sich auf den ersten Blick aus der Mordphantasie des Anfangs ergeben mag, erwächst letztlich aus ganz anderen Gesetzmäßigkeiten: aus raffiniert verknüpften Handlungs­fäden, die – wie die Schlangen aus dem Gorgonenhaupt – heraus­wach­sen aus den Köpfen ungemein glaub­würdig und plastisch gezeichneter Charaktere. Das hat mit den Äußer­lichkeiten einer Genrelogik nichts mehr zu tun.

*

Hans Werner Kettenbach, geboren 1928 in  Bensdorf am Rhein, kann schreiben. Kein Wunder: Er ist von Haus aus Journalist. Seit 1978 leitet er das politische Ressort beim Kölner Stadt-Anzeiger, dessen Korrespon­dent in Bonn und New York er lange Jahre war. Sein erster Roman ver­dankt sich einem Preisausschreiben. Anfang Dezember 1976, beim Auf­räumen, stieß Kettenbach auf die Bedingungen des Preisausschreibens um „den besten unveröffentlichten Kriminalroman in deutscher Sprache“. „Ich sah“, schrieb Kettenbach später, denkbar unprätentiös, „dass der letzte Termin für die Einreichung der Manu­skripte Montag, der 28. Februar 1977 war.“

Ganze drei Monate trennten ihn also zu diesem Zeitpunkt noch vom Ablieferung. Und da war der Roman, den er – Berufskrankheit der Journalisten – seit langem Schreiben wollte, nicht etwa schon fertig, weder in der Schublade noch im Kopf. Kettenbach stellte sich selbst eine Falle: „Ich versuchte, indem ich mich darauf einließ, mich selbst zu über­listen. Ich wollte mir den Ausweg in faule Entschuldigungen verlegen.“ Er nahm Urlaub, machte sich an die Arbeit, wurde termingerecht fertig und gewann den ersten Preis. „Grand mit Vieren“, sein Erstling, erschien 1977. Da war Hans Werner Kettenbach fast fünfzig Jahre alt.

Dann ging es Schlag auf Schlag. Der zweite Kriminalroman („Glatteis“) folgte 1982, zwischendurch erschienen noch mal schnell zwei andere, „richtige“ Romane: „Der Pascha“ (1979) und „Hinter dem Horizont“ (1981) – unbemerkt von Lesern und Kritik.

Das nächste Manuskript wollte niemand haben. Die Verlage, mit denen er bis dahin zusammen­gearbeitet hatte, winkten ab, den einen war der neue Roman zu wenig, den anderen zu viel Kriminal­roman. Das Manuskript wanderte von Lektorat zu Lektorat. Diogenes griff schließlich zu. „Minnie oder Ein Fall von Gering­fügigkeit“ – so der Titel – erschien 1984 und erwies sich als Glücksfall: ein Krimi, der kein Krimi mehr ist, in Deutsch­land fast ohne Vorbild. Die Kritik, sofern sie überhaupt reagierte, stellte Ketten­bach immerhin neben Patricia Highsmith.

Seit „Minnie“ wird Kettenbach als Geheimtipp gehandelt. Wer den Roman liest, weiß warum. Hier sind – formal und thematisch – schon fast alle Ansätze vorhanden, die Kettenbach in „Schmatz“ auf eine neue Spitze treibt. In „Minnie“ erzählt er die Geschichte des deut­schen Rechtsanwalts Lauterbach, der nach Abschluss geschäftlicher Verhand­lungen ein paar Tage Urlaub ein­schiebt, um den Süden der USA zu bereisen.

Schon bei der Ausfahrt aus Nashville spürt Lauterbach, wie sich etwas verändert: Die Wirklichkeit löst sich von ihm ab „wie eine morsche Kruste, deren Risse und Sprünge sich verbreitern, hier fällt ein Stück heraus, dort das nächste“. Lauterbach deutet sich Amerika zurecht nach dem Muster eines Kriminalromans. Ereignisse, die nichts mitein­ander zu tun haben, fügt er zu Kausal­ketten zusammen, die ihn unversehens zum Helden eines billigen B-Films machen: Er fühlt sich gejagt, als Zeuge eines Verbrechens, der beseitigt werden soll. „Der Fall ist klar. Es passte alles gut zusammen.“

Nichts ist klar. Lauterbach hält die Phan­tasiebilder, die sein Kopf-Kino ihm vor­gaukelt, für die Realität. Er glaubt, der Realität eine Melodie abzulauschen, die aber nicht mehr ist als das Echo des Pfeifens, das ein Kind im dunklen Keller von sich gibt. Ob Lauterbachs Vermutu­ngen und Ängste von der Realität gedeckt werden, wird schnell nebensächlich.

Kettenbach lässt seinen Helden, als die Realität sich hinterrücks, aber um so nachdrücklicher wieder Geltung ver­schafft, erbärmlich auf die Nase fallen – sehr zur Freude des Lesers. Der deutsche Rechtsanwalt erweist sich als der US-Realität in keiner Weise gewach­sen, weder intellektuell noch moralisch. Auf Minnie, das Negermädchen, Titelfigur des Romans, reagiert er als mieser kleiner Rassist. Als sie sich hineinziehen lässt in seine phantastische Geschichte und ihm zu helfen versucht, bedankt sich Lauterbach, indem er sie vergewaltigt. Und als sie, weil sie Beweise für Lauter­bachs Unschuld beschaffen will, verhaftet wird, verleugnet er sie und überlässt sie ihrem Schicksal in amerikanischen Gefängnissen. Er besteigt das nächste Flugzeug und lässt Amerika wie einen bösen Traum hinter sich. „Minnie oder Ein Fall von Geringfügigkeit“: Ein Glücksfall – Hans Werner Kettenbach auf der Höhe seiner Kunst.

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In einem Werkstattbericht, den er für den Kölner Stadt-Anzeiger ge­schrieben hat („So enstand mein erster Kriminalroman“), beschreibt Kettenbach, wie er sich schon früh zu einer Erzählweise entschlossen hat, von der er meinte, dass sie „dem Kriminalroman exakt angemessen“ sei. „Es liegt nahe“, schrieb er, „nicht Gottvater, der alles überblickt und in aller Herz schaut, erzählen zu lassen, sondern einen und nur einen Teil­nehmer der Geschichte..., in dessen Bewusstsein am Ende die Geschichte aufgehoben ist: den Detektiv.“ Es geht ja im Krimi, so fuhr er fort, „um die allmähliche Aufdeckung eines kom­plizierten Zusammen­hangs..., und Gottvater, der von Anfang an alles weiß, müsste sich als Erzähler auf fast schon alberne Weise verstellen.“

Wer im Lichte dieser program­ma­tischen Erklärung das Personal in Kettenbachs Romanen Revue passieren lässt, stutzt: Keine Detektive weit und breit. Zweite Überra­schung: Wo sind denn die „Fälle“, denen ein Detektiv (oder die Polizei) sinnvollerweise nachgehen könnte? Von „Grand mit Vieren“, dem Erstling, bis „Sterbetage“, dem – vor „Schmatz“ – letzten Roman, hat Kettenbach jene Verbindung zwischen „Fall“ und Aufklärung, die konstitutiv ist für den Kriminalroman traditionellen Zuschnitts, zunehmend aufgelöst. In „Glatteis“ wurde ein Kriminalfall noch sozusagen „nachgereicht“, als rückwirkende Legitimation einer Aufklärungsarbeit, deren Motor aber ganz andere, persönliche Motive waren. In „Sterbetage“, noch weit mehr als in „Minnie“, gibt es keinen „Fall“ mehr.

Übriggeblieben ist eine Denkbe­we­gung, die der Wirklichkeit, wenn sie bedrohlich in den engen Horizont des Helden eindringt und die Ordnung sei­nes kleinen Lebens zu  erschüttern droht, geradezu zwanghaft Zusam­menhänge zu unterschieben versucht. Überall werden „Fälle“ gewittert, die aber nur im Bewusstsein des Helden existieren und reine Fiktionen sind. Der Krimi findet im Kopf statt.

Und immer wieder die magische Formel, mit der Kettenbachs Figuren ihre ach so plausiblen, ach so unbe­holfenen und unzureichenden Erklärungsmodelle zu beglaubigen versuchen: „So ist es. So muss es sein.“ Es ist immer ganz anders. Das ist das Thema, das Hans Werner Kettenbach in seinen Romanen seit nunmehr sieben Jahren obsessiv um­kreist: Wie gehen die Figuren mit jener Wirklichkeit außerhalb ihres geistigen Schrebergartens um, wie läuft sie ab, diese kreisende, quälerische Denk­bewegung, die die Realität regelmäßig und zwangsläufig verfehlt?

Dazu ist Kettenbachs Erzählweise das formale Equivalent. Er sperrt seine Protagonisten, Menschen im Zustand der Desinformation, ein in das Ge­fäng­nis streng durchgehaltener Per­sonal­perspektiven, lässt sie einen extrem verengten subjektiven Blick auf die Welt werfen und zeichnet nach, wie in den Köpfen, fernab jeder Rea­lität und zumeist in freier Asso­ziation auf schmalster Faktenbasis, eine Wirk­lichkeit zusammen­gebastelt wird. Watzlawick lässt grüßen („Man muss nicht paranoid sein, um sich die Wirklichkeit aus den Fingern zu saugen“), Nietzsche auch: Das Bewusstsein als Wurmfortsatz der Instinkte.

*

Noch in dem brillanten Roman „Sterbe­tage“ war es nur das Bewusstsein einer einzigen Figur, das den Blick steuerte, ein (und nur ein) Protagonist – Kamp – richtet die Späne der Wirklichkeit nach dem Nordpol des eigenen Kopfes aus. Der „Rest der Welt“: verschleiert, fremd, stumm, bedrohlich.

In „Schmatz“ hat Kettenbach seine Erzählweise geändert. Er hat die Zentralperspektive seiner bisherigen Romane aufgegeben zugunsten unterschiedlicher Blickwinkel, die gleichgewichtig und unvermittelt nebeneinander stehen und sich gegenseitig relativieren. Der Ablauf der Ereignisse wird, gebrochen durch die Optik einzelner Figuren, prismatisch aufgefächert. Die Figuren lösen sich, Kapitel für Kapitel, im Bericht ab.

Mit diesem Wechsel der Perspektiven reißt Kettenbach dem Leser immer wieder den Boden unter den Füßen weg. Zumal er auch in dieser Hinsicht Fallen stellt: Kettenbach verschleiert zu Beginn der Kapitel, wer spricht, aus wessen Per­spektive weitererzählt wird. Verkappte innere Monologe tarnen sich als objektive Erzählhaltung eines allwissenden Erzäh­lers, der unbezweifelbare Realitäten ausbreitet. Und erst, wenn der Leser verstrickt ist in den Blick der jeweiligen Figur, wird das Inkognito des erzäh­lerischen Subjekts gelüftet.

Auf diese Weise zieht Kettenbach den Leser hinein in die Innenwelt seiner Figuren, erzeugt viel Mitleid für ihre all­zu menschlichen Schwächen, vermittelt aber zugleich ein tiefes Misstrauen gegenüber dem, was die Figuren als „Wahrheit“ und „Wirklichkeit“ ausgeben. Alle Figuren, Wehmeier wie Nowakowski, Marion wie Dörte, sind von einer äußeren Wirklichkeit – wo sie sich auch immer verbergen mag – gleichermaßen weit entfernt. Die Wahrheit hat sich vom Reden über die Wahrheit in ähnlicher Weise abgelöst wie die Aufklärung von den „Fällen“, die sie zu lösen vorgab.

Wie begann „Schmatz“? Mit einer Phantasie von Uli Wehmeier. Er stellte sich „Herrn Nowakowski“ als Leiche vor: „Das muss ein beglückender Anblick sein. Beruhigend. Entspannend.“ Er hat sich getäuscht.

Am Ende, als Nowakowski tatsächlich tot ist, bedrängen Wehmeier ganz andere Bilder. Vergeblich versucht er sich einzu­reden, dass es nur Trugbilder seien, Hirn­gespinste. Durch den Riss, der sich in Wehmeiers Welt aufgetan hat, dringt eine andere Wirklichkeit ein, „das Leben, das saftige, das handfeste“, und diese Realität erweist sich als zu mächtig, als dass Weh­­meier sie – wie Lauterbach, wie Kamp – wegdrücken könnte mit den „Blasen seiner Phantasie“, mit dem Arsenal der begrifflichen Taschenspieler­tricks, die er in seiner beruflichen Praxis so gut beherrscht.

Mag sein: Das Spiel funktioniert, die Inszenierung, mit der die Spuren der Tat verwischt wurden, ist plausibel genug, um von allen anderen, einschließlich der Polizei, als „Wirklichkeit“ akzeptiert zu werden. Dem Echo der Tat im Kopf des Täters hält sie nicht stand. Am Ende stellt sich Uli Wehmeier, als sei dieser Schritt ein Schritt auf die Wahrheit zu. Zweifel sind angebracht.

Ließen sich Kettenbachs Romane bisher immer auch lesen als Krankheitsbilder der Paranoia, als Schnitte durch „falsches“ Bewusstsein, ohne dass er die leichte Hoffnung ganz zerstörte, es könnte da­neben oder stattdessen noch so etwas wie „richtiges“ Bewusstsein geben, so ist diese Hoffnung in „Schmatz“ nicht mehr vorhanden. In seinem neuen Roman führt Kettenbach das Paranoide als Normalfall vor, ein Normalfall, in dem sich seine Figuren, in dem wir alle uns mit großem Selbstbewusstsein eingerichtet haben. Ein niederschmetternder Befund. Schon lange hat niemand mehr – zumindest in der deutschen Literatur – so erbar­mungslos und so unterhaltsam zugleich den Zustand unserer Welt beschrieben. „Schmatz“ – ein literarisches Ereignis.

Hans Werner Kettenbach:
Schmatz oder Die Sackgasse
Roman, Diogenes Verlag, Zürich 1987