Detlef
Rönfeldt Veröffentlichungen |
Kein Fall von
Geringfügigkeit
Über
Hans Werner Kettenbach, seinen Roman „Schmatz oder Die Sackgasse“ und die
Frage, warum nicht alles ein Krimi ist, was so aussieht Am Anfangs steht eine
Mordphantasie, am Ende liegt eine Leiche im Stadtpark, die Polizei hat das
letzte Wort. Ein Kriminalroman also. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. In
seinem jüngsten, seinem siebten Roman, „Schmatz oder Die Sackgasse“, erzählt
Hans Werner Kettenbach die Geschichte einer beruflichen Konfrontation mit
tödlichem Ausgang. Ort der Handlung: die Werbeagentur „VB & Partner,
Communications“. Zwei Männer im Clinch: auf der einen Seite Uli Wehmeier,
Mitte Dreißig, verheiratet, ein Kind, Werbetexter mit ungewöhnlichen
Qualitäten und ungewöhnlicher Vergangenheit, auf der anderen Kai Nowakowski,
„Creative Director“, Anfang Vierzig, schwul. „Schmatz“, der Titel des
Romans ist zugleich der ironisch-lautmalerische Markenname, den Uli Wehmeier
erfindet, als er kurzfristig auf eine Werbekampagne für Hundefutter angesetzt
wird. Er stampft in wenigen Tagen eine Konzeption aus dem Boden, die selbst
seinem Widersacher Nowakowski Respekt abnötigt. Es scheint, als könne
Wehmeier die Bedrohung seiner beruflichen Existenz noch einmal abwehren. Aber
die Lage spitzt sich schnell zu; Wehmeier, dessen Phantasie sich glänzend
bewährt bei der Werbung für Hundefutter, Sparkassen oder den
Spitzenkandidaten einer politischen Partei, reagiert auf seine Weise: Er
spielt mit dem Gedanken an Mord an seinem Vorgesetzten. Nowakowskis realer Tod ist der Höhepunkt, den der
Autor weit ausholend auf verschlungenen Wegen ansteuert. Er lässt sich viel
Zeit dabei: Ausführlich breitet Kettenbach die private Misere von Uli
Wehmeier aus (dessen Frau Marion samt Sohn die gemeinsame Wohnung verlässt),
seine Beziehung zur Kollegin Christel Sommer (die platonisch bleibt), die
Begegnung zwischen Wehmeier und seiner Ex-Freundin Dörte (mit der er, während
des Studiums, „in Frankfurt das Pflaster rausgerissen“ hat), die Lebensumstände
von Kai Nowakowski (der – auch er – Beziehungsprobleme hat), Einzelheiten
der Werbekampagnen, die sich als roter Faden durch das Buch ziehen. Ein
Bündel von Geschichten, die – jede für sich – genug Stoff für einen ganzen
Roman böten. Man tut gut daran, sich bei Kettenbach nicht allzu sicher zu
fühlen. Der Autor reicht dem Leser die Hand, zieht ihn hinein in die Struktur
des Textes – und erweist sich als Fallensteller. Es stimmt zwar: Das
Uhrwerk, das Kettenbach schon mit den ersten zupackenden Sätzen effektvoll in
Gang setzt, läuft ab mit eigener, scheinbar unerbittlicher Logik. Sein Ticken
bleibt hörbar, während wir lesen, ein Lektürehorizont, der unsere
Erwartungen steuert. Vor diesem Hintergrund macht Kettenbach jedoch schnell
klar, dass es ihm um ganz andere Dinge geht. Und die Tat am Ende, so zwingend
sie sich auf den ersten Blick aus der Mordphantasie des Anfangs ergeben mag,
erwächst letztlich aus ganz anderen Gesetzmäßigkeiten: aus raffiniert
verknüpften Handlungsfäden, die – wie die Schlangen aus dem Gorgonenhaupt –
herauswachsen aus den Köpfen ungemein glaubwürdig und plastisch
gezeichneter Charaktere. Das hat mit den Äußerlichkeiten einer Genrelogik
nichts mehr zu tun. * Hans Werner Kettenbach, geboren 1928 in Bensdorf am Rhein, kann schreiben. Kein
Wunder: Er ist von Haus aus Journalist. Seit 1978 leitet er das politische
Ressort beim Kölner Stadt-Anzeiger, dessen Korrespondent in Bonn und
New York er lange Jahre war. Sein erster Roman verdankt sich einem
Preisausschreiben. Anfang Dezember 1976, beim Aufräumen, stieß Kettenbach
auf die Bedingungen des Preisausschreibens um „den besten unveröffentlichten
Kriminalroman in deutscher Sprache“. „Ich sah“, schrieb Kettenbach später,
denkbar unprätentiös, „dass der letzte Termin für die Einreichung der Manuskripte
Montag, der 28. Februar 1977 war.“ Ganze drei Monate trennten ihn also zu diesem Zeitpunkt
noch vom Ablieferung. Und da war der Roman, den er – Berufskrankheit der
Journalisten – seit langem Schreiben wollte, nicht etwa schon fertig, weder
in der Schublade noch im Kopf. Kettenbach stellte sich selbst eine Falle:
„Ich versuchte, indem ich mich darauf einließ, mich selbst zu überlisten.
Ich wollte mir den Ausweg in faule Entschuldigungen verlegen.“ Er nahm
Urlaub, machte sich an die Arbeit, wurde termingerecht fertig und gewann den
ersten Preis. „Grand mit Vieren“, sein Erstling, erschien 1977. Da war Hans
Werner Kettenbach fast fünfzig Jahre alt. Dann ging es Schlag auf Schlag. Der zweite
Kriminalroman („Glatteis“) folgte 1982, zwischendurch erschienen noch mal
schnell zwei andere, „richtige“ Romane: „Der Pascha“ (1979) und „Hinter dem
Horizont“ (1981) – unbemerkt von Lesern und Kritik. Das nächste Manuskript wollte niemand haben. Die
Verlage, mit denen er bis dahin zusammengearbeitet hatte, winkten ab, den
einen war der neue Roman zu wenig, den anderen zu viel Kriminalroman. Das
Manuskript wanderte von Lektorat zu Lektorat. Diogenes griff schließlich zu.
„Minnie oder Ein Fall von Geringfügigkeit“ – so der Titel – erschien 1984
und erwies sich als Glücksfall: ein Krimi, der kein Krimi mehr ist, in
Deutschland fast ohne Vorbild. Die Kritik, sofern sie überhaupt reagierte,
stellte Kettenbach immerhin neben Patricia Highsmith. Seit „Minnie“ wird Kettenbach als Geheimtipp gehandelt.
Wer den Roman liest, weiß warum. Hier sind – formal und thematisch – schon
fast alle Ansätze vorhanden, die Kettenbach in „Schmatz“ auf eine neue Spitze
treibt. In „Minnie“ erzählt er die Geschichte des deutschen Rechtsanwalts
Lauterbach, der nach Abschluss geschäftlicher Verhandlungen ein paar Tage
Urlaub einschiebt, um den Süden der USA zu bereisen. Schon bei der Ausfahrt aus Nashville spürt Lauterbach,
wie sich etwas verändert: Die Wirklichkeit löst sich von ihm ab „wie eine
morsche Kruste, deren Risse und Sprünge sich verbreitern, hier fällt ein
Stück heraus, dort das nächste“. Lauterbach deutet sich Amerika zurecht nach
dem Muster eines Kriminalromans. Ereignisse, die nichts miteinander zu tun
haben, fügt er zu Kausalketten zusammen, die ihn unversehens zum Helden
eines billigen B-Films machen: Er fühlt sich gejagt, als Zeuge eines
Verbrechens, der beseitigt werden soll. „Der Fall ist klar. Es passte alles
gut zusammen.“ Nichts ist klar. Lauterbach hält die Phantasiebilder,
die sein Kopf-Kino ihm vorgaukelt, für die Realität. Er glaubt, der Realität
eine Melodie abzulauschen, die aber nicht mehr ist als das Echo des Pfeifens,
das ein Kind im dunklen Keller von sich gibt. Ob Lauterbachs Vermutungen und
Ängste von der Realität gedeckt werden, wird schnell nebensächlich. Kettenbach lässt seinen Helden, als die Realität sich
hinterrücks, aber um so nachdrücklicher wieder Geltung verschafft,
erbärmlich auf die Nase fallen – sehr zur Freude des Lesers. Der deutsche
Rechtsanwalt erweist sich als der US-Realität in keiner Weise gewachsen,
weder intellektuell noch moralisch. Auf Minnie, das Negermädchen, Titelfigur
des Romans, reagiert er als mieser kleiner Rassist. Als sie sich hineinziehen
lässt in seine phantastische Geschichte und ihm zu helfen versucht, bedankt
sich Lauterbach, indem er sie vergewaltigt. Und als sie, weil sie Beweise für
Lauterbachs Unschuld beschaffen will, verhaftet wird, verleugnet er sie und
überlässt sie ihrem Schicksal in amerikanischen Gefängnissen. Er besteigt das
nächste Flugzeug und lässt Amerika wie einen bösen Traum hinter sich. „Minnie
oder Ein Fall von Geringfügigkeit“: Ein Glücksfall – Hans Werner Kettenbach
auf der Höhe seiner Kunst. * In einem Werkstattbericht, den er für den Kölner
Stadt-Anzeiger geschrieben hat („So enstand mein erster Kriminalroman“),
beschreibt Kettenbach, wie er sich schon früh zu einer Erzählweise
entschlossen hat, von der er meinte, dass sie „dem Kriminalroman exakt
angemessen“ sei. „Es liegt nahe“, schrieb er, „nicht Gottvater, der alles
überblickt und in aller Herz schaut, erzählen zu lassen, sondern einen und
nur einen Teilnehmer der Geschichte..., in dessen Bewusstsein am Ende die
Geschichte aufgehoben ist: den Detektiv.“ Es geht ja im Krimi, so fuhr er
fort, „um die allmähliche Aufdeckung eines komplizierten Zusammenhangs...,
und Gottvater, der von Anfang an alles weiß, müsste sich als Erzähler auf
fast schon alberne Weise verstellen.“ Wer im Lichte dieser programmatischen Erklärung das
Personal in Kettenbachs Romanen Revue passieren lässt, stutzt: Keine
Detektive weit und breit. Zweite Überraschung: Wo sind denn die „Fälle“,
denen ein Detektiv (oder die Polizei) sinnvollerweise nachgehen könnte? Von
„Grand mit Vieren“, dem Erstling, bis „Sterbetage“, dem – vor „Schmatz“ –
letzten Roman, hat Kettenbach jene Verbindung zwischen „Fall“ und Aufklärung,
die konstitutiv ist für den Kriminalroman traditionellen Zuschnitts,
zunehmend aufgelöst. In „Glatteis“ wurde ein Kriminalfall noch sozusagen
„nachgereicht“, als rückwirkende Legitimation einer Aufklärungsarbeit, deren
Motor aber ganz andere, persönliche Motive waren. In „Sterbetage“, noch weit
mehr als in „Minnie“, gibt es keinen „Fall“ mehr. Übriggeblieben ist eine Denkbewegung, die der
Wirklichkeit, wenn sie bedrohlich in den engen Horizont des Helden eindringt
und die Ordnung seines kleinen Lebens zu
erschüttern droht, geradezu zwanghaft Zusammenhänge zu unterschieben
versucht. Überall werden „Fälle“ gewittert, die aber nur im Bewusstsein des
Helden existieren und reine Fiktionen sind. Der Krimi findet im Kopf statt. Und immer wieder die magische Formel, mit der
Kettenbachs Figuren ihre ach so plausiblen, ach so unbeholfenen und
unzureichenden Erklärungsmodelle zu beglaubigen versuchen: „So ist es. So
muss es sein.“ Es ist immer ganz anders. Das ist das Thema, das Hans Werner
Kettenbach in seinen Romanen seit nunmehr sieben Jahren obsessiv umkreist:
Wie gehen die Figuren mit jener Wirklichkeit außerhalb ihres geistigen
Schrebergartens um, wie läuft sie ab, diese kreisende, quälerische Denkbewegung,
die die Realität regelmäßig und zwangsläufig verfehlt? Dazu ist Kettenbachs Erzählweise das formale
Equivalent. Er sperrt seine Protagonisten, Menschen im Zustand der
Desinformation, ein in das Gefängnis streng durchgehaltener Personalperspektiven,
lässt sie einen extrem verengten subjektiven Blick auf die Welt werfen und
zeichnet nach, wie in den Köpfen, fernab jeder Realität und zumeist in
freier Assoziation auf schmalster Faktenbasis, eine Wirklichkeit zusammengebastelt
wird. Watzlawick lässt grüßen („Man muss nicht paranoid sein, um sich die
Wirklichkeit aus den Fingern zu saugen“), Nietzsche auch: Das Bewusstsein als
Wurmfortsatz der Instinkte. * Noch in dem brillanten Roman „Sterbetage“ war es nur
das Bewusstsein einer einzigen Figur, das den Blick steuerte, ein (und nur
ein) Protagonist – Kamp – richtet die Späne der Wirklichkeit nach dem Nordpol
des eigenen Kopfes aus. Der „Rest der Welt“: verschleiert, fremd, stumm,
bedrohlich. In „Schmatz“ hat Kettenbach seine Erzählweise geändert.
Er hat die Zentralperspektive seiner bisherigen Romane aufgegeben zugunsten
unterschiedlicher Blickwinkel, die gleichgewichtig und unvermittelt
nebeneinander stehen und sich gegenseitig relativieren. Der Ablauf der
Ereignisse wird, gebrochen durch die Optik einzelner Figuren, prismatisch
aufgefächert. Die Figuren lösen sich, Kapitel für Kapitel, im Bericht ab. Mit diesem Wechsel der Perspektiven reißt Kettenbach
dem Leser immer wieder den Boden unter den Füßen weg. Zumal er auch in dieser
Hinsicht Fallen stellt: Kettenbach verschleiert zu Beginn der Kapitel, wer
spricht, aus wessen Perspektive weitererzählt wird. Verkappte innere
Monologe tarnen sich als objektive Erzählhaltung eines allwissenden Erzählers,
der unbezweifelbare Realitäten ausbreitet. Und erst, wenn der Leser
verstrickt ist in den Blick der jeweiligen Figur, wird das Inkognito des
erzählerischen Subjekts gelüftet. Auf diese Weise zieht Kettenbach den Leser hinein in
die Innenwelt seiner Figuren, erzeugt viel Mitleid für ihre allzu
menschlichen Schwächen, vermittelt aber zugleich ein tiefes Misstrauen
gegenüber dem, was die Figuren als „Wahrheit“ und „Wirklichkeit“ ausgeben.
Alle Figuren, Wehmeier wie Nowakowski, Marion wie Dörte, sind von einer
äußeren Wirklichkeit – wo sie sich auch immer verbergen mag – gleichermaßen
weit entfernt. Die Wahrheit hat sich vom Reden über die Wahrheit in ähnlicher
Weise abgelöst wie die Aufklärung von den „Fällen“, die sie zu lösen vorgab. Wie begann „Schmatz“? Mit einer Phantasie von Uli
Wehmeier. Er stellte sich „Herrn Nowakowski“ als Leiche vor: „Das muss ein
beglückender Anblick sein. Beruhigend. Entspannend.“ Er hat sich getäuscht. Am Ende, als Nowakowski tatsächlich tot ist, bedrängen
Wehmeier ganz andere Bilder. Vergeblich versucht er sich einzureden, dass es
nur Trugbilder seien, Hirngespinste. Durch den Riss, der sich in Wehmeiers
Welt aufgetan hat, dringt eine andere Wirklichkeit ein, „das Leben, das
saftige, das handfeste“, und diese Realität erweist sich als zu mächtig, als
dass Wehmeier sie – wie Lauterbach, wie Kamp – wegdrücken könnte mit den
„Blasen seiner Phantasie“, mit dem Arsenal der begrifflichen Taschenspielertricks,
die er in seiner beruflichen Praxis so gut beherrscht. Mag sein: Das Spiel funktioniert, die Inszenierung, mit
der die Spuren der Tat verwischt wurden, ist plausibel genug, um von allen
anderen, einschließlich der Polizei, als „Wirklichkeit“ akzeptiert zu werden.
Dem Echo der Tat im Kopf des Täters hält sie nicht stand. Am Ende stellt sich
Uli Wehmeier, als sei dieser Schritt ein Schritt auf die Wahrheit zu. Zweifel
sind angebracht. Ließen sich Kettenbachs Romane bisher immer auch lesen
als Krankheitsbilder der Paranoia, als Schnitte durch „falsches“ Bewusstsein,
ohne dass er die leichte Hoffnung ganz zerstörte, es könnte daneben oder
stattdessen noch so etwas wie „richtiges“ Bewusstsein geben, so ist diese
Hoffnung in „Schmatz“ nicht mehr vorhanden. In seinem neuen Roman führt
Kettenbach das Paranoide als Normalfall vor, ein Normalfall, in dem sich seine
Figuren, in dem wir alle uns mit großem Selbstbewusstsein eingerichtet haben.
Ein niederschmetternder Befund. Schon lange hat niemand mehr – zumindest in
der deutschen Literatur – so erbarmungslos und so unterhaltsam zugleich den
Zustand unserer Welt beschrieben. „Schmatz“ – ein literarisches Ereignis. |