Detlef
Rönfeldt Veröffentlichungen |
Die böhmische Sintflut
Für Vera, die Ich-Erzählerin und Protagonistin in
Zuzana Brabcovás Roman „Weit vom Baum“, ist das keine Überraschung. Sie hat
es immer gewusst, dass dieses Ende unmittelbar bevorsteht, dass ihre Vision
von den apokalyptischen Wassermassen, die alles hinwegspülen werden, mehr war
als nur der „Dada-Traum“ einer geistig Verwirrten, als die man sie
abzustempeln versucht. Und nun ist es also so weit. Das Wasser ist da. Angesichts
der steigenden Flut, „mit des Wassers Schneide an der Kehle“, schließt sie
die Augen und beginnt, einen lange geplanten Roman zu schreiben: Erinnerungen
an ein Leben in Böhmen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zuzana Brabcová, geboren 1959 in Prag und fast exakt im
gleichen Alter wie ihre Prophetin Vera, hat den Roman ihrer Generation
geschrieben, eine Flaschenpost aus der Zeit der Finsternis, die sich
„Normalisierung“ nannte – und zugleich eine bittere Generalabrechnung mit
der Welt am Vorabend der Apokalypse. „Weit vom Baum“, diese Offenbarung der
Vera T., ist ein Prunkstück der tschechischen Literatur geworden. Das Buch
steht strahlend neben den anderen Innenansichten des real existierenden
Sozialismus, die wir aus der Tschechoslowakei kennen. Während aber Hrabal und
Kundera, Kliment und Klíma Zeugen der Entwicklung in ihrer Heimat waren
(wenn auch ohnmächtige), gehört Zuzana Brabcová einer anderen Generation an:
der Generation der Nachgeborenen, die zu jung waren, um den Aufbruch des
Prager Frühlings und sein jähes Ende bewusst zu erleben. „Unsere Generation“, schreibt Zuzana Brabcová alias
Vera, ist „autistisch, dem Alkohol verfallen, tief verschuldet, östlich
melancholisch, ambitionslos, westlich sachlich und dynamisch“. Es ist eine
Generation ohne Hoffnung und ohne Perspektive, eingesperrt in eine
„luftdicht verschlossene Heimat mit der Nachbildung eines Himmels“, in ein
Land, das sich aus Schweigen, Lügen und schiefen Legenden eine fragwürdige
Legitimität gezimmert hat. Eine Generation „ohne Anker, da ohne Meer“, der
nur noch bleibt, sich auf dem Friedhof der enttäuschten Hoffnungen
einzurichten oder – das Land zu verlassen. Nichts Neues in Böhmen. Veras Generation: eine Generation von Exilanten. Pavel
Řeháček etwa, Veras erste Liebe, der Rotschopf aus der Bank neben
ihr, der sich schon auf den ersten Seiten in ihren Roman drängt. Er ist, als
Vera zwölf war, nach den Sommerferien nicht aus Wien zurückgekehrt. Oder
Katja, die so rührend verlogene tschechische Aufsätze schreiben kann. Sie
endet als „Hostess“ und heiratet einen Piloten, dem sie nach Rom folgt. Oder
Ivan, der versoffene Klarinettist, der Vera auf der Baustelle des Prager
Nationaltheaters entjungfert und vergeblich versucht, wie einst Comenius
über die Schneekoppe zu fliehen. Sie alle gehen oder wollen fort, auf der
Suche nach einem Land, in dem sie eine Heimat finden können, auf der Flucht
vor Vätern, die als verlogen und unglaubwürdig erlebt werden, weil sie
unfähig oder zu feige sind, auf die Fragen ihrer Kinder angemessen zu
antworten. Die Väter: verhasste Agenten der Anpassung, die ihren
Kindern die Zukunft verbauen. Veras Vater zum Beispiel, der „disziplinierte
evangelische Pastor“, vor der Wahrheit geschützt „durch den Schatten des
gekreuzigten Jesus“, der Vera mit endlosen Gutenachtgeschichten aus der Bibel
quält. Vera ahnt, dass er der Spiegel ist, in dem sie sich selbst wiederfinden
müsste, sie weiß, dass seine von religiöser Inbrunst triefende Stimme sie
immer verfolgen wird, bis auf den Boden des Ozeans. Sie hasst ihn – wie den
Lehrer Slavík mit seinem abgestandenen tschechischen Patriotismus, wie den
Großvater, den enttäuschten Kommunisten, der seiner Sehnsucht nach einer
anderen Welt in phantastisch verformten Weltkarten Ausdruck verlieht, aber
nie mit ihr spricht. Nicht einmal Ivans Vater, Herr Zámek, macht in diesem
Konzert der schuldigen Väter eine bessere Figur. Dabei erscheint er Vera zunächst
als Hoffnungsträger, denn er war „dabei“ und hat für seine Unterschrift unter
ein politisches Manifest sieben Jahre Zwangsarbeit abgeleistet. Herr Zámek,
die „lebende Legende“, der resignierte Dissident. Nun arbeitet er als
Angestellter der Prager Fernheizwerke in einer ganz anderen Art von
Untergrund, und sein Widerstand hat sich in eine lächerlich kleine private
Geste verwandelt: In den Katakomben tief unter dem Stadion von Strahov
mästet er – ein Schwein. Das ist so eines der wunderbar treffenden Bilder,
realitätsnah und doch poetisch, die Zuzana Brabcová für die Situation der
siebziger Jahre in ihrer Heimat findet und von denen ihr Buch überquillt. Zuzana Brabcová hat ihren erstaunlichen Roman „Weit vom
Baum“ bereits 1984 beendet. Er kursierte zunächst, wie seinerzeit üblich
bei Texten dieser Art, im Untergrund, wurde 1987 im Kölner Exil-Verlag Index
erstmals verlegt und ist in diesem Frühjahr fast zeitgleich in der
Tschechoslowakei und – in der fabelhaften und eleganten Übersetzung Lea Lustykovás
– auch bei uns erschienen. Ein eminent politischer Roman, sollte man meinen,
doch das Gegenteil ist der Fall. Zuzana Brabcová zielt weiter: Sie lässt Vera
ihr Leben erzählen als Paraphrase der Schöpfungsgeschichte, die Beschreibung
ihres Lebens wächst sich aus zu einer exemplarischen Wiederholung des Wegs
der Menschheit von der Vorzeit zur Zivilisation. Vera ist nicht ins Exil gegangen. Sie hat Böhmen, ihr
„irdisches Paradies, in dem die Berge mit dem Himmel Verlöbnis feiern und die
Seele sich vor Sehnsucht weitet“, nicht verlassen, weil sie weiß, dass sie
dieses in ihrem Blut codierte Böhmen ohnehin nicht los werden könnte, wohin
sie auch immer ginge. Doch Böhmen war eben zum letzten Mal im Paläozoikum von
Meerwasser überflutet. Und das ist für Vera die Ursache allen Übels. Ihr
Leiden an der Welt ist nicht politisch motiviert, sondern metaphysisch, es
ist ein Leiden am Leben selbst, ein Leiden daran, dass die Welt nicht mehr
der Garten Eden ist, der sie einst war – bevor sich das Wasser zurück zog. Das real existierende Böhmen, in das sie hinein wächst
und dem sie sich von Geburt an „geopfert“ fühlt, empfindet Vera vor aller
politischen Erfahrung als „Reich der Angst“, als fremd und bedrohlich, eine
Welt aus Zerrspiegeln, die das Bild der Wirklichkeit als Fratze zurück
werfen. Wie damals, als sie mit ihrem Vater das Labyrinth auf dem Laurenziberg
besuchte, jenes Spiegelkabinett auf dem Petřin, das jedes Kind in Prag
kennt – eine ihrer prägenden Erfahrungen. Doch für Vera steht eines fest:
Ihre eigentliche Heimat ist das Wasser. Und sie weiß, dass das Wasser bald
zurück kehren wird, um den verlorenen paradiesischen Weltzustand wieder herzustellen.
Wen wundert es, dass diese Prophezeiung sie geradewegs in ein Haus für
Geisteskranke führen muss. Doch soweit ist es noch nicht. Mit dem Stachel der
Sehnsucht im Herzen macht Vera sich auf die Suche: nach Spuren des Lebens in
der erstarrten Welt, nach einem Ankerplatz für sich und ihre Generation, nach
ihren Ahnen, nach ihren Wurzeln, nach Vätern ganz anderer Art, immer in der
Hoffnung auf ein „Zepter“, mit dem sie im „Reich der Angst“ herrschen könnte.
Doch niemand nimmt sie an die Hand, um sie zu führen, niemand gibt ihr
verlässliche Antworten. Worauf sie stößt: hohle Fassaden, flüchtige Illusionen,
die für Augenblicke tröstlich sein mögen, dem verborgenen Wissen, das Vera
in sich trägt, und ihrer metaphysischen Ungeduld aber nicht standhalten
können. Und wenn die Angst übermächtig wird, flüchtet sie sich in eine ihrer
„Ohnmachten“, wie damals, bei der Beerdigung ihres Großvaters, als sie,
bedrängt von der Unbegreiflichkeit des Todes, erstmals hinabtauchte in den
Ozean ihres Innern. Aber lässt sie sich denn stillen in dieser Welt, Veras
metaphysische Ungeduld? Lange bleibt der Leser im Ungewissen darüber, worauf
Zuzana Brabcová hinauswill. Hoch werden sie aufgetürmt, die großen Themen,
die bei Veras Suche in den Blick
kommen. „Weit vom Baum“ ist eine Tour de force durch das ganze Spektrum der falschen
Tröstungen, die unsere Zivilisation, die
„antik-christlich-renaissancistisch-liberal-sozialistische Tradition Europas“
zu bieten hat. Sie alle werden demaskiert als letztlich rührend vergebliche
Versuche des menschlichen Tiers, mit seiner chtonischen Angst vor dem ganz
Anderen fertig zu werden: durch das Ausmalen seiner Höhle mit magischen
Zeichen oder das Mästen von Schweinen in der Finsternis von unterirdischen
Katakomben. Das ist vielleicht das Erstaunlichste an diesem
erstaunlich reifen Roman: dass sich Zuzana Brabcová bei ihrer Generalabrechnung
nicht überhebt. Sicher: Das ist kein Buch für flüchtige Leser, manchmal
fast ein Rätselspiel selbst für den, der die Topographie Prags und die Grundzüge
tschechischer Mythologie und Geschichte kennt. Man hätte sich ein paar mehr
von den Anmerkungen gewünscht, mit denen Lea Lustyková hier und da Verständnishilfen
zu geben versucht. Denn Zuzana Brabcová gönnt ihren Lesern keine Atempause
und keinen festen Boden unter den Füßen. Dennoch: Wie virtuos und bestechend
suggestiv sie ihre Stoff- und Themenfülle zu einem wunderbar dicht gewebten
Geflecht aus Erinnerungen, Träumen, Visionen, literarischen und biblischen
Anspielungen zusammenfügt; wie sie den Leser hineinzieht in den Ozean hinter
Veras geschlossenen Augen, wo die Gesetze von Raum und Zeit nicht gelten, wo
keine Alltagslogik den Strom assoziativer Bilder behindert; wie sie im
Trommelwirbel der Motive unbeirrt ihr Thema, das Thema der existenziellen
Heimatlosigkeit des Menschen in dieser Welt, durchspielt – das ist schon ein
bemerkenswertes Kunst-Stück. Ivan Klíma hat „Weit vom Baum“ in einer
Samisdat-Rezension mit einer Symphonie verglichen. Und in der Tat lässt sich
die Struktur dieses Textes, der – auch wenn sich sein Beziehungsreichtum
nicht schon bei der ersten Lektüre erschließt – von großer Klarheit ist, wohl
kaum besser beschreiben. Es ist ja nicht einmal Veras eigene Stimme, die uns aus
dem Roman entgegen tönt. Sie ist das Echo von Echos, die in der Spiegelwelt
hin und her geworfen werden. Wir hören darin die Stimme des verhassten
Vaters, den sie nicht loswerden kann, und wir hören darin die vielen Stimmen
aus der Literatur, die Veras Denken und ihren Diskurs vor aller Lebenserfahrung
schon an der Wurzel vergiftet haben: „tätowierte Socken“, die man nicht
ausziehen kann. Dagegen setzt Zuzana Brabcová eine ganz andere Vision
voller Geduld und demütiger Bescheidenheit. Es ist der Traum davon, wie die
Welt, wenn überhaupt, erlöst werden kann: durch eine zufällige Geste, durch
einen Ton oder die flüchtige Begegnung von Augen, die unerwartet einen Tunnel
durch die Zeit bohren. Es ist der Traum davon, dass das zerrissene Band
zwischen Himmel und Erde jenseits aller Geschwätzigkeit für kurze Augenblicke
wieder geknüpft werden kann: durch ein „nur schwer festzuhaltendes Aufblitzen,
unscheinbar und doch mit ungeheurer Energie aufgeladen, in dem gleichsam der
Kern alles Essentiellen destilliert ist“. Zuzana Brabcová: Weit vom Baum |