Detlef Rönfeldt

 

 

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DIE ZEIT, 6. September 1991

Die böhmische Sintflut


Zuzana Brabcovás apokalyptischer Roman einer Generation ohne Hoffnung – eine neue Stimme aus der Tschechoslowakei


Endlich hat der Himmel ein Einsehen. Er öffnet die Schleusen und lässt den Regen fließen. Die Sintflut ist da, das reinigende, alles verschlingende Wasser, das Böhmen versinken lässt – in einem Ozean, wie er das Land zuletzt im Paläozoikum bedeckt hat. Die Sintflut, das Ende der Menschheit, das Ende der Welt, das Ende der Zivilisation.

Für Vera, die Ich-Erzählerin und Prota­gonistin in Zuzana Brabcovás Roman „Weit vom Baum“, ist das keine Über­raschung. Sie hat es immer gewusst, dass dieses Ende unmit­telbar bevorsteht, dass ihre Vision von den apokalyptischen Wassermassen, die alles hinwegspülen werden, mehr war als nur der „Dada-Traum“ einer geistig Verwirrten, als die man sie abzustempeln versucht. Und nun ist es also so weit. Das Wasser ist da. Ange­sichts der steigenden Flut, „mit des Wassers Schneide an der Kehle“, schließt sie die Au­gen und beginnt, einen lange geplanten Ro­man zu schreiben: Erinne­rungen an ein Leben in Böhmen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Zuzana Brabcová, geboren 1959 in Prag und fast exakt im gleichen Alter wie ihre Prophetin Vera, hat den Roman ihrer Generation geschrieben, eine Flaschen­post aus der Zeit der Finsternis, die sich „Normalisierung“ nannte – und zugleich eine bittere General­abrechnung mit der Welt am Vorabend der Apokalypse. „Weit vom Baum“, diese Offen­barung der Vera T., ist ein Prunkstück der tschechischen Literatur geworden. Das Buch steht strah­lend neben den anderen Innen­ansichten des real existierenden Sozialismus, die wir aus der Tschechoslowakei kennen. Während aber Hrabal und Kundera, Kliment und Klíma Zeugen der Entwick­lung in ihrer Heimat waren (wenn auch ohnmächtige), gehört Zuzana Brabcová einer anderen Generation an: der Generation der Nach­geborenen, die zu jung waren, um den Aufbruch des Prager Früh­lings und sein jähes Ende bewusst zu erleben.

„Unsere Generation“, schreibt Zuzana Brab­cová alias Vera, ist „autistisch, dem Alko­hol verfallen, tief verschuldet, östlich melan­cholisch, ambitionslos, westlich sachlich und dynamisch“. Es ist eine Gene­ration ohne Hoffnung und ohne Perspektive, eingesperrt in eine „luftdicht verschlossene Heimat mit der Nach­bil­dung eines Himmels“, in ein Land, das sich aus Schweigen, Lügen und schiefen Legenden eine fragwürdige Legitimität gezimmert hat. Eine Generation „ohne Anker, da ohne Meer“, der nur noch bleibt, sich auf dem Friedhof der ent­täuschten Hoffnungen einzurichten oder – das Land zu verlassen. Nichts Neues in Böhmen.

Veras Generation: eine Generation von Exilanten. Pavel Řeháček etwa, Veras erste Liebe, der Rotschopf aus der Bank neben ihr, der sich schon auf den ersten Seiten in ihren Roman drängt. Er ist, als Vera zwölf war, nach den Sommerferien nicht aus Wien zurückgekehrt. Oder Katja, die so rührend verlogene tsche­chische Aufsätze schreiben kann. Sie endet als „Hostess“ und heiratet einen Piloten, dem sie nach Rom folgt. Oder Ivan, der versoffene Klarinettist, der Vera auf der Baustelle des Prager National­theaters ent­jungfert und vergeblich ver­sucht, wie einst Comenius über die Schneekoppe zu fliehen. Sie alle gehen oder wollen fort, auf der Suche nach einem Land, in dem sie eine Heimat finden können, auf der Flucht vor Vätern, die als verlogen und unglaubwürdig erlebt wer­den, weil sie unfähig oder zu feige sind, auf die Fragen ihrer Kinder angemessen zu antworten.

Die Väter: verhasste Agenten der Anpassung, die ihren Kindern die Zukunft verbauen. Veras Vater zum Beispiel, der „disziplinierte evange­lische Pastor“, vor der Wahrheit geschützt „durch den Schat­ten des gekreuzigten Jesus“, der Vera mit endlosen Gutenachtgeschichten aus der Bibel quält. Vera ahnt, dass er der Spiegel ist, in dem sie sich selbst wieder­fin­den müsste, sie weiß, dass seine von religi­öser Inbrunst triefende Stimme sie immer verfolgen wird, bis auf den Boden des Ozeans. Sie hasst ihn – wie den Lehrer Slavík mit seinem abge­standenen tschechischen Patriotismus, wie den Großvater, den ent­täuschten Kommunisten, der seiner Sehn­sucht nach einer anderen Welt in phantastisch ver­formten Weltkarten Ausdruck verlieht, aber nie mit ihr spricht.

Nicht einmal Ivans Vater, Herr Zámek, macht in diesem Konzert der schuldigen Väter eine bessere Figur. Dabei erscheint er Vera zunächst als Hoffnungsträger, denn er war „dabei“ und hat für seine Unterschrift unter ein politisches Manifest sieben Jahre Zwangs­arbeit abgeleistet. Herr Zámek, die „lebende Legende“, der resignierte Dissident. Nun arbeitet er als Angestellter der Prager Fern­heizwerke in einer ganz anderen Art von Untergrund, und sein Widerstand hat sich in eine lächerlich kleine private Geste verwan­delt: In den Katakomben tief unter dem Sta­dion von Strahov mästet er – ein Schwein. Das ist so eines der wunderbar treffenden Bilder, realitätsnah und doch poetisch, die Zuzana Brabcová für die Situation der sieb­ziger Jahre in ihrer Heimat findet und von denen ihr Buch überquillt.

Zuzana Brabcová hat ihren erstaunlichen Roman „Weit vom Baum“ bereits 1984 be­endet. Er kursierte zunächst, wie seiner­zeit üblich bei Texten dieser Art, im Untergrund, wurde 1987 im Kölner Exil-Verlag Index erst­mals verlegt und ist in diesem Frühjahr fast zeitgleich in der Tschechoslowakei und – in der fabel­haften und eleganten Übersetzung Lea Lustykovás – auch bei uns erschienen. Ein eminent politischer Roman, sollte man meinen, doch das Gegenteil ist der Fall. Zuzana Brabcová zielt weiter: Sie lässt Vera ihr Leben erzählen als Paraphrase der Schö­p­fungsgeschichte, die Beschrei­bung ihres Lebens wächst sich aus zu einer exempla­rischen Wiederholung des Wegs der Mensch­heit von der Vorzeit zur Zivilisation.

Vera ist nicht ins Exil gegangen. Sie hat Böhmen, ihr „irdisches Paradies, in dem die Berge mit dem Himmel Verlöbnis feiern und die Seele sich vor Sehnsucht weitet“, nicht verlassen, weil sie weiß, dass sie dieses in ihrem Blut codierte Böhmen ohnehin nicht los werden könnte, wohin sie auch immer ginge. Doch Böhmen war eben zum letzten Mal im Paläozoikum von Meerwasser überflutet. Und das ist für Vera die Ursache allen Übels. Ihr Leiden an der Welt ist nicht politisch motiviert, sondern metaphysisch, es ist ein Leiden am Leben selbst, ein Leiden daran, dass die Welt nicht mehr der Garten Eden ist, der sie einst war – bevor sich das Wasser zurück zog.

Das real existierende Böhmen, in das sie hinein wächst und dem sie sich von Geburt an „geopfert“ fühlt, empfindet Vera vor aller politischen Erfahrung als „Reich der Angst“, als fremd und bedrohlich, eine Welt aus Zerrspiegeln, die das Bild der Wirklichkeit als Fratze zurück werfen. Wie damals, als sie mit ihrem Vater das Labyrinth auf dem Laurenzi­berg be­suchte, jenes Spiegelkabinett auf dem Petřin, das jedes Kind in Prag kennt – eine ihrer prägenden Erfahrungen. Doch für Vera steht eines fest: Ihre eigentliche Heimat ist das Wasser. Und sie weiß, dass das Wasser bald zurück kehren wird, um den verlorenen paradiesischen Weltzustand wieder herzu­stellen. Wen wundert es, dass diese Prophe­zeiung sie geradewegs in ein Haus für Geistes­­kranke führen muss.

Doch soweit ist es noch nicht. Mit dem Stachel der Sehnsucht im Herzen macht Vera sich auf die Suche: nach Spuren des Lebens in der erstarrten Welt, nach einem Ankerplatz für sich und ihre Generation, nach ihren Ahnen, nach ihren Wurzeln, nach Vätern ganz anderer Art, immer in der Hoffnung auf ein „Zepter“, mit dem sie im „Reich der Angst“ herrschen könnte. Doch niemand nimmt sie an die Hand, um sie zu führen, niemand gibt ihr verläss­liche Antworten. Worauf sie stößt: hohle Fassaden, flüchtige Illusionen, die für Augenblicke tröstlich sein mögen, dem ver­bor­genen Wissen, das Vera in sich trägt, und ihrer metaphysischen Ungeduld aber nicht standhalten können. Und wenn die Angst über­mächtig wird, flüchtet sie sich in eine ihrer „Ohnmachten“, wie damals, bei der Beer­digung ihres Groß­vaters, als sie, bedrängt von der Unbe­greif­lichkeit des Todes, erstmals hinab­tauchte in den Ozean ihres Innern.

Aber lässt sie sich denn stillen in dieser Welt, Veras metaphysische Ungeduld? Lange bleibt der Leser im Ungewissen darüber, worauf Zuzana Brabcová hinauswill. Hoch werden sie aufgetürmt, die großen Themen, die  bei Veras Suche in den Blick kommen. „Weit vom Baum“ ist eine Tour de force durch das ganze Spektrum der falschen Tröstungen, die unsere Zivilisation, die „antik-christlich-renaissancistisch-liberal-sozialistische Tradition Europas“ zu bieten hat. Sie alle werden demaskiert als letztlich rührend ver­geb­liche Versuche des menschlichen Tiers, mit seiner chtonischen Angst vor dem ganz Anderen fertig zu werden: durch das Aus­malen seiner Höhle mit magischen Zeichen oder das Mästen von Schweinen in der Finsternis von unterirdischen Katakomben.

Das ist vielleicht das Erstaunlichste an diesem erstaunlich reifen Roman: dass sich Zuzana Brabcová bei ihrer General­abrechnung nicht überhebt. Sicher: Das ist kein Buch für flüch­tige Leser, manch­mal fast ein Rätselspiel selbst für den, der die Topographie Prags und die Grund­züge tschechischer Mythologie und Geschich­te kennt. Man hätte sich ein paar mehr von den Anmerkungen gewünscht, mit denen Lea Lustyková hier und da Verständ­nis­hilfen zu geben versucht. Denn Zuzana Brabcová gönnt ihren Lesern keine Atem­pause und keinen festen Boden unter den Füßen. Dennoch: Wie virtuos und bestechend suggestiv sie ihre Stoff- und Themenfülle zu einem wunderbar dicht gewebten Geflecht aus Erinnerungen, Träumen, Visionen, liter­arischen und biblischen Anspielungen zusam­menfügt; wie sie den Leser hineinzieht in den Ozean hinter Veras geschlossenen Augen, wo die Gesetze von Raum und Zeit nicht gelten, wo keine Alltagslogik den Strom asso­ziativer Bilder behindert; wie sie im Trommel­wirbel der Motive unbeirrt ihr Thema, das Thema der existenziellen Heimatlosigkeit des Menschen in dieser Welt, durchspielt – das ist schon ein bemerkenswertes Kunst-Stück. Ivan Klíma hat „Weit vom Baum“ in einer Samisdat-Rezension mit einer Symphonie verglichen. Und in der Tat lässt sich die Struktur dieses Textes, der – auch wenn sich sein Beziehungs­reichtum nicht schon bei der ersten Lektüre erschließt – von großer Klarheit ist, wohl kaum besser beschreiben.

Es ist ja nicht einmal Veras eigene Stimme, die uns aus dem Roman entgegen tönt. Sie ist das Echo von Echos, die in der Spiegelwelt hin und her geworfen werden. Wir hören darin die Stimme des verhassten Vaters, den sie nicht loswerden kann, und wir hören darin die vielen Stimmen aus der Literatur, die Veras Denken und ihren Diskurs vor aller Lebens­erfahrung schon an der Wurzel vergiftet haben: „tätowierte Socken“, die man nicht ausziehen kann.

Dagegen setzt Zuzana Brabcová eine ganz andere Vision voller Geduld und demütiger Bescheidenheit. Es ist der Traum davon, wie die Welt, wenn überhaupt, erlöst werden kann: durch eine zufällige Geste, durch einen Ton oder die flüchtige Begegnung von Augen, die unerwartet einen Tunnel durch die Zeit bohren. Es ist der Traum davon, dass das zerrissene Band zwischen Himmel und Erde jenseits aller Geschwätzigkeit für kurze Augenblicke wieder geknüpft werden kann: durch ein „nur schwer festzuhaltendes Aufblitzen, unscheinbar und doch mit ungeheurer Energie aufgeladen, in dem gleichsam der Kern alles Essentiellen destilliert ist“.

Zuzana Brabcová: Weit vom Baum
Roman; aus dem Tschechischen von
Lea Lustyková; Rowohlt Berlin, Berlin 1991