Detlef
Rönfeldt Veröffentlichungen |
Höllenflug
in den deutschen Herbst
Traktat
über Gehorsam und Würde: Friedrich
Christian Delius’ Roman „Mogadischu Fensterplatz“
Was damals
geschah, ist wohlbekannt, jedenfalls soweit es die Außenansicht der
Ereignisse betrifft. Was sich im Innern des Flugzeugs abspielte, was gar im
Innern der Geiseln vorging, wissen wir sehr viel weniger, trotz vieler
Reportagen, Interviews und Augenzeugenberichte. Diesen „Verkürzungen,
Beschönigungen, Klagen“ stellt Friedrich Christian Delius in seinem dritten
Roman „Mogadischu Fensterplatz“ seine eigene Version gegenüber. Er schlüpft
dabei in die Haut der Andrea Boländer, deren Name nicht auf der Passagierliste
stand, bei der es sich, wie der Klappentext betont, um eine „strikt fiktive
Figur“ handelt. Erzählanlass ist – ein an Ernst von Salomon („Der
Fragebogen“, 1951) erinnerndes Verfahren – ein amtliches Formular: der
„Antrag auf Versorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung für die Opfer
von Gewalttaten (OEG)“, den Andrea Boländer ausfüllen soll, fünf Wochen nach
ihrer Befreiung. Doch sie
wehrt sich. Nein, ein „Fall fürs Versorgungsamt“ will sie nicht werden.
Trotzig sperrt sie sich gegen die verkürzenden Normfragen des Formblatts,
das ganze sechseinhalb Zeilen für die „genaue Schilderung des Tathergangs“
lässt. Trotzig widerspricht sie der amtlichen Unterstellung, die Ereignisse
hätten ihr Schaden zugefügt: „Nein, ich bin nicht behindert, bin nicht
beschädigt von dieser Reise zurückgekehrt, im Gegenteil! Es war ein Umweg und
sonst nichts!“ Damit
klingen gleich zu Anfang zwei zentrale Themen an, die Delius in seinem Roman
durchspielt: die Frage nämlich, ob die zunächst erzwungene Unterwerfung unter
eine neue, absurde, durch Waffengewalt legitimierte Ordnung ein Anlass zur
Scham sei – „jedes Tier hätte aufbegehrt“ -, und der Gedanke, ob nicht
vielleicht das, was mit Andrea Boländer nach ihrer Befreiung geschieht, eine
Fortsetzung der Geiselhaft mit anderen Mitteln sei? „Kein Beamter soll mich
versorgen, kein Psychologe beleidigen, von Journalisten und Polizisten lass
ich mich nicht länger auspressen. Zu lange habe ich mitgespielt.“ Andrea
Boländer füllt den Antrag nicht aus. Statt dessen versetzt sie sich noch
einmal hinein in die „andere“, die „weit entfernte“ Andrea Boländer, die fünf
Wochen zuvor in Palma in ein Flugzeug stieg, einen Fensterplatz in Reihe zehn
besetzte und plötzlich mittendrin war in jenem Geiseldrama, das einer der
entsetzlichen Höhepunkte im „deutschen Herbst“ 1977 war. Sie lässt sich noch
einmal ein auf die Bilder, die Laute, den Gestank, die von ihrem Gedächtnis
herangeschwemmt werden, auf das Hin und Her zwischen Erwartung, Enttäuschung,
Entsetzen, zwischen Hoffnung und Todesangst, auf die quälende Ungewissheit
über Ablauf und Ausgang der Geiselnahme. Delius
schildert das gekaperte Flugzeug als ort- und zeitlosen Raum, in dem die
Geiseln, von allen Informationen und damit zunächst auch von jedem
Verständnis für die Situation abgeschnitten, ein Martyrium durchleben; ein
Fegefeuer, in dem „friedlichen Westdeutschen“, „braungebrannten Voyeuren des
Weltgeschehens“, die glauben, einen „Rechtsanspruch auf Sicherheit,
Unverletzbarkeit und auf unbeschwerte Freizeit“ zu haben, alle trügerischen
Sicherheiten und ihre Menschenwürde weggerissen werden. Auf ihrem
Fensterplatz in Reihe zehn, ihrer „offenen Einzelzelle mit 50 cm Beinfreiheit
und 80 cm Kopffreiheit“ versucht Andrea Boländer, die dreißig Jahre alte
Forscherin, Zoologin, Assistentin in Tübingen, vergeblich, Distanz zu wahren,
sich nicht von der Situation, die schockartig über sie hineinbricht,
aufsaugen zu lassen. „Bloß nicht verrückt werden! Du bist nicht persönlich
gemeint!“ Aber alle Strategien des geistigen Überlebens, alle „Beruhigungsformeln“,
aller „Forschertrost“, der ihr die Gefangenschaft psychisch erleichtern soll,
halten nicht lange stand gegenüber den Nöten des gepeinigten Körpers, für den
die Gefangenschaft mehr und mehr zur Tortur wird: dem Durst, dem Hunger, der
quälenden Enge und dem Druck in Blase und Darm. Ein
Höhepunkt ihres Leidens: der Strom fällt aus. „Kein Benzin mehr, kein Licht,
keine Klimaanlage.“ Die Hitzefolter, die jetzt beginnt, verschweißt Andrea
Boländer endgültig mit der Situation, von der sie bisher glaubte, beobachtend
Distanz wahren zu können. „Ich war mit der neuen, höllischen Realität völlig
verwachsen, saß stinkend, kochend und zerfallen, zu keiner Bewegung mehr
fähig, zwischen lauter halbnackten Leibern, die in einer Blechkiste zusammen
geworfen waren, aufeinander geprallt und nebeneinander geschichtet,
abgerichtet im Wohlverhalten, stöhnend und unter verdrückten Schreien
begraben.“ Es gelingt
Delius eindrucksvoll, präzise und mit staunenswertem Einfühlungsvermögen,
nachzuzeichnen, wie es in Kopf und Körper der Geiseln ausgesehen haben mag,
wie sich das Feindbild verschiebt, wie der Hass der hilflosen Gefangenen sich
von den Entführern langsam auf die Politiker draußen verlagert, die an einen
Austausch nicht zu denken scheinen. Und je mehr die Geiselhaft von einem
geistigen zu einem körperlichen Problem wird, je mehr es um das schlichte
Ertragen statt um Begreifen geht, desto packendere Passagen gelingen ihm,
desto mehr geht „Mogadischu Fensterplatz“ unter die Haut. Aber Delius, der
Aufklärer und Moralist, ein „freier Mitarbeiter der Klassenkämpfe“, wie er
sich selbst einmal genannt hat, wäre nicht Delius, wenn es ihm nicht um mehr
gegangen wäre als nur um ein effektvolles, psychologisch untermauertes
Protokoll. Delius
stemmt die Geiselhaft mit großem gedanklichen Aufwand hoch zu einer Modellsituation.
Gedeckt durch die begrenzte Perspektive seiner Ich-Erzählerin kann er entschieden
Position beziehen, und er tut es ausgiebig. Delius packt viel hinein in den
Kopf seiner Andrea Boländer. Er lässt sie zu Einsichten kommen und
Zusammenhänge herstellen, die „Mogadischu Fensterplatz“ in die Nähe eines
politischen Bildungsromans rücken: Etwa wenn Andrea Boländer – nachdem sie
endlich verstanden hat, dass sie gegen RAF-Häftlinge ausgetauscht werden soll
– begreift, dass auch sie, als nachgeborene Deutsche, nicht von jeder
Verantwortung frei ist, wenn sie sich hineingezogen fühlt in die „Erbschaft
des Terrors“, den die Palästinenser von den Juden, diese wiederum von unseren
Vätern und Großvätern, übernommen haben, „moralisch gedeckt nach alledem, was
die Nazis ihnen angetan hatten“. Oder wenn sie , kurz vor Ablauf des letzten
Ultimatums, den Tod vor Augen, die Entführer, die Politiker, die
„Bilderjäger“ gemeinsam mit den Polizisten und den deutschen Terroristen
Freudentänze auf ihrem Grab aufführen sieht, weil sie alle, so Andrea
Boländers Erkenntnis, von ihrem Tod profitieren. Da wird,
wie an anderen Stellen, der Anspruch spürbar, ein theoretisches Gesamtbild
des politisch motivierten Terrorismus der siebziger Jahre zu entwerfen, trotz
oder gerade wegen der perspektivischen Beschränkung auf Andrea Boländers
Blick, die Delius dazu zwingt, all das, was durch die Erzählhaltung
ausgeblendet bleiben muss, einzuholen über Träume, Tagträume, Erinnerungen
und Phantasien der Ich-Erzählerin. Die Erzählsituation der Geiselhaft ist
auch stark genug, das alles zu tragen. Die Figur der Andrea Boländer ist es
nicht. Bei allem
Staunen über die Fähigkeit des Autors, die „Bruchstücke des Schreckens in die
richtige Reihenfolge zu bringen, über die Virtuosität, mit der er vorführt,
wie die Geiselnehmer auf der Klaviatur des Terrors spielen, wie packend und
vielschichtig er den Höllenflug inszeniert: Es bleibt ein Unbehagen. Zu
selten nämlich gelingt es Delius, vergessen zu machen, dass seine Andrea
Boländer nur eine Kopfgeburt des Autors ist. Sie ist zu stromlinienförmig auf
die Absichten von Delius hin konzipiert, sie gewinnt zu wenig eigenes Leben,
kaum Konturen über ihre erzähltechnische Funktion hinaus. Darum ist
„Mogadischu Fensterplatz“, dieser Traktat über Gehorsam und Menschenwürde,
zwar ein wichtiges Buch, ein großer Roman ist es nicht. Damit keine
Missverständnis aufkommt: Dass Andrea Boländers biographischer Hintergrund
weitgehend außerhalb des Romans bleibt, wird von Delius ausführlich
begründet. Er stellt einleuchtend dar, wie der Druck der Geiselhaft alles
unwichtig macht, was die Opfer an Vergangenheit mit sich herumschleppen. Und
trotzdem: „Mogadischu Fensterplatz“ ist eine Gleichung ohne Unbekannte. Was
wir von Andrea Boländer erfahren, wenig genug, ist allzu absehbar, bleibt
konventionell, auch in ihren Träumen, weckt wenig Interesse für die Figur,
alles wird erklärt, die Zahnräder der Erzählebenen greifen zu geschmiert
ineinander, es bleibt kein Rest, kein Überschuss, zu wenig Raum für eigene
Entdeckungen des Lesers. Im
Gegenteil: Die Lektüre muss sich zunächst sogar durchsetzen gegen den
Unwillen, der daraus erwächst, dass der Leser von Anfang an so viel mehr weiß
als Andrea Boländer. Der Sinn, den die Ich-Erzählerin den verstörenden
Ereignissen im Flugzeug erst mühsam abringen muss, im Kopf des Lesers ist er
längst vorhanden. Zwar schließt sich die Schere zwischen Vorwissen und Text
zunehmend, je mehr Andrea selbst auf den Begriff bringen kann, was
geschieht, je mehr sie in der Lage ist, auch den politischen Hintergrund der
Situation zu erkennen. Da erweist sich, dass die Anbindung an die realen
Ereignisse, die der Titel behauptet, eher ein Pferdefuß von „Mogadischu
Fensterplatz“ ist. Dabei könnte der Roman gut auch ohne den lautstarken
Rekurs auf Zeitgeschichte bestehen. Bei genauerem Hinsehen ist es mit der
Anbindung an jene Ereignisse des Jahres 1977 ohnehin so weit nicht her.
Delius lässt sich davon einen lockeren Rahmen vorgeben, innerhalb dessen er
sich jedoch schnell von dem Anspruch absetzt, Zeitgeschichte – und sei es
fiktiv – nachzuerzählen. Am Ende
schließt sich der Kreis. Mit einer unvermuteten Zuspitzung der Medienkritik,
die sich als roter Faden durch den Roman zieht, macht Delius klar, warum
Andrea Boländer am Anfang so trotzig behauptet, die Ereignisse hätten sie
nicht verletzt oder beschädigt. Die Befreiung der Geiseln – so stellt er mit
kühnem Schwung dar – sei keine wirkliche Befreiung. Die Flucht aus dem
Flugzeug, weg von den Terroristen, führe – so Delius, so Andrea – unmittelbar
hinein in eine Gefangenschaft mit anderen Mitteln: „Ich lief direkt in eine
Tagesschausszene, lief in die Schlagzeilen hinein.“ Vor den Objektiven der
Filmkameras, vor den Mikrophonen der „Interviewgeier“, die sie draußen
erwarten, ist Andrea Boländer – so begreifen wir mit ihr – ebenso wenig
geschützt wie vor den Waffen der Entführer, denen sie entkommen ist. „Ich
lief von all dem fort, ich lief auf all das zu, ich wusste es und wusste es
nicht.“ Fünf Wochen
später, als der Roman einsetzt, weiß sie, dass all der „Rummel mit der Presse, Polizei, Politikern“ sie
auch nur zum Objekt gemacht hat. Provoziert von dem Fragebogen des Anfangs,
den sie als letzten Schritt der Reduzierung von Entführungsopfern auf
Karteileichen empfindet, münzt Andrea Boländer ihre Erfahrung aus der
Geiselhaft um in eine Verweigerung, eine erste kleine Geste des Widerstands:
„Zu lange habe ich mitgespielt. Ich werde den Antrag nicht ausfüllen.“ Friedrich Christian Delius: |