Detlef Rönfeldt

 

 

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DIE ZEIT, 4. Dezember 1987

 

Höllenflug in den deutschen Herbst

 

Traktat über Gehorsam und Würde:  Friedrich Christian Delius’ Roman „Mogadischu Fensterplatz“


Die Entführung des Lufthansa-Jets „Landshut“ im Jahre 1977, die in Palma/Mallorca ihren Anfang nahm und nach 106 Stunden Irrflug in Mogadischu/Somalia mit der Befreiung der Geiseln durch die GSG 9 zu Ende ging, hat sich in unser kollektives Gedächtnis tief eingebrannt. Wer hat sie nicht noch vor Augen, die Bilder des Flugzeugs in der Wüste, die Bilder der Opfer, der überlebenden wie der toten? Wer erinnert sich nicht an den Schock, an die Angst und das Mitleid mit den Geiseln und an die Erleichterung über den glücklichen Ausgang, die auch wir Unbeteiligte empfunden haben? All das wurde soeben allenthalben aufgefrischt durch Artikel, Dossiers und Berichte. Es ist zehn Jahre her. Ein Ereignis der Zeitgeschichte.

Was damals geschah, ist wohlbekannt, jedenfalls soweit es die Außenansicht der Ereignisse betrifft. Was sich im Innern des Flugzeugs abspielte, was gar im Innern der Geiseln vorging, wissen wir sehr viel weniger, trotz vieler Reportagen, Interviews und Augenzeugenberichte. Diesen „Verkürzungen, Beschönigungen, Klagen“ stellt Friedrich Christian Delius in seinem dritten Roman „Mogadischu Fensterplatz“ seine eigene Version gegenüber. Er schlüpft dabei in die Haut der Andrea Boländer, deren Name nicht auf der Passagierliste stand, bei der es sich, wie der Klappentext betont, um eine „strikt fiktive Figur“ handelt. Erzählanlass ist – ein an Ernst von Salomon („Der Fragebogen“, 1951) erinnerndes Verfahren – ein amtliches Formular: der „Antrag auf Versorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung für die Opfer von Gewalttaten (OEG)“, den Andrea Boländer ausfüllen soll, fünf Wochen nach ihrer Befreiung.

Doch sie wehrt sich. Nein, ein „Fall fürs Versorgungsamt“ will sie nicht werden. Trotzig sperrt sie sich gegen die verkürzenden Norm­fragen des Formblatts, das ganze sechsein­halb Zeilen für die „genaue Schilde­rung des Tathergangs“ lässt. Trotzig widerspricht sie der amtlichen Unterstellung, die Ereignisse hätten ihr Schaden zugefügt: „Nein, ich bin nicht behindert, bin nicht beschädigt von dieser Reise zurückgekehrt, im Gegenteil! Es war ein Umweg und sonst nichts!“

Damit klingen gleich zu Anfang zwei zentrale Themen an, die Delius in seinem Roman durchspielt: die Frage nämlich, ob die zunächst erzwungene Unterwerfung unter eine neue, absurde, durch Waffengewalt legitimierte Ordnung ein Anlass zur Scham sei – „jedes Tier hätte aufbegehrt“ -, und der Gedanke, ob nicht vielleicht das, was mit Andrea Boländer nach ihrer Befreiung geschieht, eine Fortsetzung der Geiselhaft mit anderen Mitteln sei? „Kein Beamter soll mich versorgen, kein Psychologe beleidigen, von Journalisten und Polizisten lass ich mich nicht länger auspressen. Zu lange habe ich mitgespielt.“

Andrea Boländer füllt den Antrag nicht aus. Statt dessen versetzt sie sich noch einmal hinein in die „andere“, die „weit entfernte“ Andrea Boländer, die fünf Wochen zuvor in Palma in ein Flugzeug stieg, einen Fensterplatz in Reihe zehn besetzte und plötzlich mittendrin war in jenem Geiseldrama, das einer der entsetzlichen Höhepunkte im „deutschen Herbst“ 1977 war. Sie lässt sich noch einmal ein auf die Bilder, die Laute, den Gestank, die von ihrem Gedächtnis herangeschwemmt werden, auf das Hin und Her zwischen Erwartung, Enttäuschung, Entsetzen, zwischen Hoffnung und Todesangst, auf die quälende Ungewissheit über Ablauf und Ausgang der Geiselnahme.

Delius schildert das gekaperte Flugzeug als ort- und zeitlosen Raum, in dem die Geiseln, von allen Informationen und damit zunächst auch von jedem Verständnis für die Situation abgeschnitten, ein Martyrium durchleben; ein Fegefeuer, in dem „friedlichen Westdeutschen“, „braungebrannten Voyeuren des Weltgeschehens“, die glauben, einen „Rechtsanspruch auf Sicherheit, Unverletzbarkeit und auf unbeschwerte Freizeit“ zu haben, alle trügerischen Sicherheiten und ihre Menschenwürde weggerissen werden.

Auf ihrem Fensterplatz in Reihe zehn, ihrer „offenen Einzelzelle mit 50 cm Beinfreiheit und 80 cm Kopffreiheit“ versucht Andrea Boländer, die dreißig Jahre alte Forscherin, Zoologin, Assistentin in Tübingen, vergeblich, Distanz zu wahren, sich nicht von der Situation, die schockartig über sie hineinbricht, aufsaugen zu lassen. „Bloß nicht verrückt werden! Du bist nicht persönlich gemeint!“ Aber alle Strategien des geistigen Überlebens, alle „Beruhigungsformeln“, aller „Forschertrost“, der ihr die Gefangenschaft psychisch erleichtern soll, halten nicht lange stand gegenüber den Nöten des gepeinigten Körpers, für den die Gefangenschaft mehr und mehr zur Tortur wird: dem Durst, dem Hunger, der quälenden Enge und dem Druck in Blase und Darm.

Ein Höhepunkt ihres Leidens: der Strom fällt aus. „Kein Benzin mehr, kein Licht, keine Klimaanlage.“ Die Hitzefolter, die jetzt beginnt, verschweißt Andrea Boländer endgültig mit der Situation, von der sie bisher glaubte, beobachtend Distanz wahren zu können. „Ich war mit der neuen, höllischen Realität völlig verwachsen, saß stinkend, kochend und zerfallen, zu keiner Bewegung mehr fähig, zwischen lauter halbnackten Leibern, die in einer Blechkiste zusammen geworfen waren, aufeinander geprallt und nebeneinander geschichtet, abgerichtet im Wohlverhalten, stöhnend und unter verdrückten Schreien begraben.“

Es gelingt Delius eindrucksvoll, präzise und mit staunenswertem Einfühlungsvermögen, nachzuzeichnen, wie es in Kopf und Körper der Geiseln ausgesehen haben mag, wie sich das Feindbild verschiebt, wie der Hass der hilflosen Gefangenen sich von den Entführern langsam auf die Politiker draußen verlagert, die an einen Austausch nicht zu denken scheinen. Und je mehr die Geiselhaft von einem geistigen zu einem körperlichen Pro­blem wird, je mehr es um das schlichte Ertra­gen statt um Begreifen geht, desto packen­dere Passagen gelingen ihm, desto mehr geht „Mogadischu Fensterplatz“ unter die Haut. Aber Delius, der Aufklärer und Moralist, ein „freier Mitarbeiter der Klassen­kämpfe“, wie er sich selbst einmal genannt hat, wäre nicht Delius, wenn es ihm nicht um mehr gegangen wäre als nur um ein effektvolles, psycho­logisch untermauertes Protokoll.

Delius stemmt die Geiselhaft mit großem gedanklichen Aufwand hoch zu einer Modell­situation. Gedeckt durch die begrenzte Per­spek­tive seiner Ich-Erzählerin kann er ent­schie­den Position beziehen, und er tut es ausgiebig. Delius packt viel hinein in den Kopf seiner Andrea Boländer. Er lässt sie zu Einsichten kommen und Zusammenhänge herstellen, die „Mogadischu Fensterplatz“ in die Nähe eines politischen Bildungsromans rücken: Etwa wenn Andrea Boländer – nachdem sie endlich verstanden hat, dass sie gegen RAF-Häftlinge ausgetauscht werden soll – begreift, dass auch sie, als nachgeborene Deutsche, nicht von jeder Verantwortung frei ist, wenn sie sich hineingezogen fühlt in die „Erbschaft des Terrors“, den die Palästinenser von den Juden, diese wiederum von unseren Vätern und Großvätern, übernommen haben, „moralisch gedeckt nach alledem, was die Nazis ihnen angetan hatten“. Oder wenn sie , kurz vor Ablauf des letzten Ultimatums, den Tod vor Augen, die Entführer, die Politiker, die „Bilderjäger“ gemeinsam mit den Polizisten und den deutschen Terroristen Freudentänze auf ihrem Grab aufführen sieht, weil sie alle, so Andrea Boländers Erkenntnis, von ihrem Tod profitieren.

Da wird, wie an anderen Stellen, der Anspruch spürbar, ein theoretisches Gesamtbild des politisch motivierten Terrorismus der siebziger Jahre zu entwerfen, trotz oder gerade wegen der perspektivischen Beschränkung auf Andrea Boländers Blick, die Delius dazu zwingt, all das, was durch die Erzählhaltung ausgeblendet bleiben muss, einzuholen über Träume, Tagträume, Erinnerungen und Phantasien der Ich-Erzählerin. Die Erzählsituation der Geiselhaft ist auch stark genug, das alles zu tragen. Die Figur der Andrea Boländer ist es nicht.

Bei allem Staunen über die Fähigkeit des Autors, die „Bruchstücke des Schreckens in die richtige Reihenfolge zu bringen, über die Virtuosität, mit der er vorführt, wie die Geiselnehmer auf der Klaviatur des Terrors spielen, wie packend und vielschichtig er den Höllenflug inszeniert: Es bleibt ein Unbehagen. Zu selten nämlich gelingt es Delius, vergessen zu machen, dass seine Andrea Boländer nur eine Kopfgeburt des Autors ist. Sie ist zu stromlinienförmig auf die Absichten von Delius hin konzipiert, sie gewinnt zu wenig eigenes Leben, kaum Konturen über ihre erzähltechnische Funktion hinaus. Darum ist „Mogadischu Fensterplatz“, dieser Traktat über Gehorsam und Menschen­würde, zwar ein wichtiges Buch, ein großer Roman ist es nicht.

Damit keine Missverständnis aufkommt: Dass Andrea Boländers biographischer Hintergrund weitgehend außerhalb des Romans bleibt, wird von Delius ausführlich begründet. Er stellt einleuchtend dar, wie der Druck der Geiselhaft alles unwichtig macht, was die Opfer an Vergangenheit mit sich herum­schleppen. Und trotzdem: „Mogadischu Fensterplatz“ ist eine Gleichung ohne Unbekannte. Was wir von Andrea Boländer erfahren, wenig genug, ist allzu absehbar, bleibt konventionell, auch in ihren Träumen, weckt wenig Interesse für die Figur, alles wird erklärt, die Zahnräder der Erzählebenen greifen zu geschmiert ineinander, es bleibt kein Rest, kein Überschuss, zu wenig Raum für eigene Entdeckungen des Lesers.

Im Gegenteil: Die Lektüre muss sich zunächst sogar durchsetzen gegen den Unwillen, der daraus erwächst, dass der Leser von Anfang an so viel mehr weiß als Andrea Boländer. Der Sinn, den die Ich-Erzählerin den verstö­renden Ereignissen im Flugzeug erst mühsam abringen muss, im Kopf des Lesers ist er längst vorhanden. Zwar schließt sich die Schere zwischen Vorwissen und Text zuneh­mend, je mehr Andrea selbst auf den Begriff bringen kann, was geschieht, je mehr sie in der Lage ist, auch den politischen Hintergrund der Situation zu erkennen. Da erweist sich, dass die Anbindung an die realen Ereignisse, die der Titel behauptet, eher ein Pferdefuß von „Mogadischu Fensterplatz“ ist. Dabei könnte der Roman gut auch ohne den laut­starken Rekurs auf Zeitgeschichte beste­hen. Bei genauerem Hinsehen ist es mit der Anbin­dung an jene Ereignisse des Jahres 1977 ohnehin so weit nicht her. Delius lässt sich davon einen lockeren Rahmen vorgeben, innerhalb dessen er sich jedoch schnell von dem Anspruch absetzt, Zeitgeschichte – und sei es fiktiv – nachzuerzählen.

Am Ende schließt sich der Kreis. Mit einer unvermuteten Zuspitzung der Medienkritik, die sich als roter Faden durch den Roman zieht, macht Delius klar, warum Andrea Boländer am Anfang so trotzig behauptet, die Ereig­nisse hätten sie nicht verletzt oder beschädigt. Die Befreiung der Geiseln – so stellt er mit kühnem Schwung dar – sei keine wirkliche Befreiung. Die Flucht aus dem Flugzeug, weg von den Terroristen, führe – so Delius, so Andrea – unmittelbar hinein in eine Gefangen­schaft mit anderen Mitteln: „Ich lief direkt in eine Tagesschausszene, lief in die Schlag­zeilen hinein.“ Vor den Objektiven der Filmkameras, vor den Mikrophonen der „Interviewgeier“, die sie draußen erwarten, ist Andrea Boländer – so begreifen wir mit ihr – ebenso wenig geschützt wie vor den Waffen der Entführer, denen sie entkommen ist. „Ich lief von all dem fort, ich lief auf all das zu, ich wusste es und wusste es nicht.“

Fünf Wochen später, als der Roman einsetzt, weiß sie, dass all der „Rummel  mit der Presse, Polizei, Politikern“ sie auch nur zum Objekt gemacht hat. Provoziert von dem Fragebogen des Anfangs, den sie als letzten Schritt der Reduzierung von Entführungs­opfern auf Karteileichen empfindet, münzt Andrea Boländer ihre Erfahrung aus der Geiselhaft um in eine Verweigerung, eine erste kleine Geste des Widerstands: „Zu lange habe ich mitgespielt. Ich werde den Antrag nicht ausfüllen.“

Friedrich Christian Delius:
Mogadischu Fensterplatz
Roman, Rowohlt Verlag, Reinbek 1987

 

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