Detlef Rönfeldt

 

 

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DIE ZEIT, 11. November 1988

Die Mitte der Welt


„Spiel mir ein Lied“: John Bergers Geschichten von der Liebe

Es ist, zum Glück, selten nötig, einen Autor gegen seinen Verlag in Schutz zu nehmen. Dies ist so ein Fall. Wer den Klappentext zu John Bergers „Spiel mir ein Lied“ verfasst hat, hat entweder ungenau oder ein ganz anderes Buch gelesen. „Sechs Liebesgeschichten aus einem kleinen Dorf im Süden Frankreichs“ werden angekündigt – es sind fünf, und die letzte, die der deutschen Übersetzung den Namen gegeben hat, spielt in Venedig. Doch auch die anderen Geschichten bieten kein „Porträt des ländlichen Lebens“, wie behauptet wird, und wenn mit dem im Klappen­text erwähnten „Genre“, dem diese Texte angeblich zugehören, etwa das Genre der „Dorfgeschichten“ gemeint sein sollte, wäre das weniger als die halbe Wahrheit.

John Berger, 1926 in London geboren und seit vielen Jahren in Südfrank­reich ansässig, ist bei uns als Kunst­kritiker und –philosoph bekannt ge­wor­den, vor allem als Verfasser einer hochgerühmten und immer noch sehr lesenwerten Studie über „Glanz und Elend des Malers Pablo Picasso“. Cineasten wissen vielleicht auch, dass er seit 1971 an vielen der Filme des Schweizers Alain Tanner prägend als Drehbuchautor mitgewirkt hat, an „Jonas“ etwa oder an „Le Milieu du Monde“.

Dass  Berger auch ein Erzähler von außergewöhnlicher Kraft und poeti­scher Begabung ist, beweist der soe­ben erschienene Prosaband „Spiel mir ein Lied“ mit Nachdruck. Es ist der – allerdings völlig selbständige – zweite Teil einer geplanten Trilogie, die mit
„SauErde“ (1982 bei uns erschienen) begann, und es ist eines der selten gewordenen Bücher, die das Herz weiten und die Gedanken fliegen las­sen, die – bei aller Wehmut – die Liebe zum Leben und zu den Men­schen nachhaltig befördern, eines der Bücher, nach deren Lektüre wir über die Welt ein wenig besser Bescheid zu wissen meinen – es erinnert in vielem an die Filme Alain Tanners.

Mag sein, dass das namenlose Berg­dorf, das für vier der fünf Geschichten Bergers den Hintergrund abgibt, irgend­­wo in Savoyen, nahe der Grenze zu Italien, wirklich aufzufinden ist; mag auch sein, dass es das Dorf ist, in dem Berger lebt oder gelebt hat. Aber das spielt keine Rolle. „Von be­stimmten Einzelheiten abgesehen“, schreibt Berger in einer Vorbe­mer­kung zu seinem Buch, „könnte dieses Dorf in vielen Ländern der Welt über die Kontinente hinweg existieren“. Es ist für die Menschen, die hier leben, die Mitte der Welt und steht für all die anderen Orte, die Menschen als ihre Heimat empfinden, den ihnen ge­mäßen Ort der Geborgenheit.

Das „Dorf“ als Mittelpunkt der Welt, nicht im geografischen, sondern in einem ontologischen Sinn als „Heim“ im „Schoß des Wirklichen“ – das sind Gedanken, die auf Mircea Eliade zurückgehen. John Berger hat sie aufgegriffen und ausgeführt in seinem Essay „Und unsere Gesichter, mein Herz, vergängilch wie Photos“, der 1986 auf deutsch erschienen ist. Dort hat Berger auch notiert, dass er die „Emigration, erzwungene oder ge­wählte, über nationale Grenzen hin­weg oder vom Dorf zur Stadt“ für „die fundamentale Erfahrung unserer Zeit“ hält. Und emigrieren heißt stets, „das Zentrum der Welt demontieren“. Was das für die Menschen, die fortgehen, für die Menschen, die bleiben, und für jene, die zurückkommen, bedeutet, dieser Frage spürt Berger in seinen Geschichten nach.

Einer von denen, die im Dorf geblie­ben sind, ist Félix, der „Glück­liche“, es ist der Akkordeon­spieler aus der gleich­namigen Erzählung, mit der das Buch einsetzt. Félix ist unver­hei­ratet, weil die Frauen seiner Gene­ration, des Landlebens überdrüssig, in die Städte gezogen sind. Er lebt allein, in der Einsamkeit seines Hofes, mit dem Hund und dem Vieh, dem er im Stall auf seinem Akkordeon vorspielt. Als seine Mutter starb, war Félix zwei­undvierzig.

Die Erzählung setzt rund zehn Jahre später ein: Félix soll auf einer Hoch­zeit spielen, und er trifft auf Delphine, eine dralle, verwitwete Fabrik­arbei­terin, die viel lacht, baumelnde Ohrrin­ge trägt und Félix unverhohlene Avan­cen macht. Doch die Liebesge­schich­te, die der Leser erwartet, sie endet, bevor sie begonnen hat, und sie endet abrupt. Delphine erwähnt, dass ihr Mann vor vier Jahren bei einem Auto­unfall ums Leben gekommen sei, und die Plötzlichkeit dieses Todes er­schreckt Félix: „So schnell! Er sprach diese Worte mit solcher Endgültigkeit aus, dass sie verstummte.“

In der Welt, in der Félix lebt, stirbt man anders. In jener Welt gilt auch einen an­­­dere Zeitrechnung, dort ist das Leben – noch – eingebunden in natür­liche Abläufe, und der Tod ist Teil die­ses Lebens: ein langsamer Tod, den man von weither kommen sieht, und dem man sich, wenn die Zeit reif ist, bereitwillig überlässt. Félix ist noch ganz und gar gefangen in einer bäuerlichen Welt, deren Rhythmus und Zeitgefühl von der Natur geprägt sind und sich seit dem Mittelalter nicht entschei­dend verändert haben. Félix ist die ein­zige der Figuren, von denen dieses Buch erzählt, die in dieser Weise noch in ihrer Weltmitte verwur­zelt ist, alle anderen sind Emigranten und haben sich von diesem Ideal be­reits mehr oder weniger weit entfernt.

Zum Beispiel Boris. Er ist einer von denen, die fortgegangen sind. Und er kommt zurück, um mit Vieh Geld zu machen. Von der Zeit erwartet er nichts mehr, von seiner Gerissenheit alles. Sein Plan: „Mager kaufen, fett verkaufen. Was er dabei unterschätzt, waren die Arbeit und die Zeit, die zwischen beidem lagen.“ Boris ist zurückgekommen, aber die Mitte der Welt, seine Heimat, ist unwieder­bringlich verloren. Er kann sie auch in der Liebe zu der Frau aus Lyon, die sich im Dorf niederlässt, nicht wieder­finden. Dabei verspricht sich Boris viel von ihr: „Auf dieser unwirtlichen Erde hatte er, im Alter von einundvierzig Jahren, eine Zuflucht gefunden. Die Blonde war ein Ort, ein Ort, wo das Gesetz der Unwirtlichkeit nicht galt.“ Das Scheitern dieser Liebe ist ein zwei­ter Verlust von Heimat, den Boris nicht verkraftet. Er verendet, gleich­gültig ge­­wor­den gegen die Welt, verwahrlost und unterernährt.

Albertine, die Mutter von Félix, wusste, was mit den Männern los ist: Sie haben einen starken Rücken, sie sind rücksichtslos, aber schwach – Gundeigenschaften, die sich „bei jedem Mann auf seine Weise“ zusammensetzen. Albertine wusste auch, dass die Männer Frauen brauchen, die ihre Schwäche nicht ausnutzen, und sie ahnte vielleicht mehr als sie wusste, welche Rolle die Musik dabei spielt, als Symptom und als ein Mittel, die Sehnsucht der Männer zu stillen, nicht nur, wenn die Liebe ausbleibt.

„Spiel mir ein Lied“, sagt Albertine kurz vor ihrem Tod zu Félix, und dieser Satz fällt immer wieder – ein Leitmotiv des Buches. Es ist kein Zufall, dass Boris am Scheitern seiner Liebe zugrunde geht: Er verfügt nicht über die Musik – wie Bruno etwa, der Posaune spielende Bauer, der jeden wählt, der eine Anhebung des Milchpreises verspricht, und mit seinem Blasmusikverein einen Ausflug nach Venedig macht, oder wie Marius, der alte Hirte, aus der „Zeit der Kosmonauten“, der einen Sommer lang Augenblicke des Glücks mit der fünfzig Jahre jüngeren Danielle erlebt, auch wenn der Singsang, mit dem er seine Tiere ruft, nicht eigent­lich musi­ka­lisch, sondern wie „gepresste Schreie“ klingt. Marius weiß, dass das Glück nicht von Dauer ist.

Es fällt schwer, eine der fünf Ge­schich­ten dieses rundum gelungenen Buches be­son­ders hervorzuheben. Sie haben alle ihren eigenen Zauber und verlocken dazu, mit Lust und Gewinn immer wieder gelesen zu werden. Eine Erzählung ragt aber dennoch heraus, weil sie die längste ist, weil der Titel, den sie trägt, „Einst in EUROPA“ gleichzeitig der Titel der eng­lischen Originalausgabe ist, und vor allem, weil sie die einzige ist, in der die Liebe gelingt. Diese Geschich­te lässt John Berger von einer Frau erzählen.

Odile Blanc, die Bauerntochter – auch sie längst dem „Dorf“ entwachsen – erinnert sich an ihr Leben, während sie mit ihrem Sohn, Christian, einem Drachenflieger, hoch über den Orten schwebt, in denen sie das Leben zu­gebracht hat. Sie sieht den Hof ihres Vaters, den Fluss, der das Dorf von der Fabrik trennt, sie erinnert sich an ihren Geliebten, Christians Vater, der in dieser Fabrik ums Leben kam, und an den Vater ihres zweiten Kindes, der dort seine Beine verlor.

Doch trotz allem: In den Erinnerungen der Odile Blanc, die während des Drachen­flugs zum Gesamtbild eines Lebens voller Höhen und Tiefen zusammenwachsen, kommt die Hoffnung zum Ausdruck, dass man auch in der Fremde, auch in einer veränderten Welt, die sich weit von dem bäuerlichen Ideal entfernt hat, seine Heimat finden kann, sofern man nur das Leben, das man lebt und gelebt hat, zur Mitte der Welt macht. Diese Hoffnung ist für Odile am Ende des Drachenflugs mit ihrem Sohn Christian zur Gewissheit geworden: „Sag ihnen, Christian, sag ihnen, wenn wir auf der Erde landen, dass es nichts weiter zu wissen gibt.“

John Berger: Spiel mir ein Lied
Geschichten von der Liebe, aus dem Englischen von Jörg Trobitius; Hanser Verlag, München 1988