Detlef
Rönfeldt Veröffentlichungen |
Die Mitte der Welt
Es ist, zum Glück, selten nötig, einen Autor gegen
seinen Verlag in Schutz zu nehmen. Dies ist so ein Fall. Wer den Klappentext
zu John Bergers „Spiel mir ein Lied“ verfasst hat, hat entweder ungenau oder
ein ganz anderes Buch gelesen. „Sechs Liebesgeschichten aus einem kleinen
Dorf im Süden Frankreichs“ werden angekündigt – es sind fünf, und die letzte,
die der deutschen Übersetzung den Namen gegeben hat, spielt in Venedig. Doch
auch die anderen Geschichten bieten kein „Porträt des ländlichen Lebens“, wie
behauptet wird, und wenn mit dem im Klappentext erwähnten „Genre“, dem diese
Texte angeblich zugehören, etwa das Genre der „Dorfgeschichten“ gemeint sein
sollte, wäre das weniger als die halbe Wahrheit. John Berger, 1926 in London geboren und seit vielen
Jahren in Südfrankreich ansässig, ist bei uns als Kunstkritiker und
–philosoph bekannt geworden, vor allem als Verfasser einer hochgerühmten
und immer noch sehr lesenwerten Studie über „Glanz und Elend des Malers Pablo
Picasso“. Cineasten wissen vielleicht auch, dass er seit 1971 an vielen der
Filme des Schweizers Alain Tanner prägend als Drehbuchautor mitgewirkt hat,
an „Jonas“ etwa oder an „Le Milieu du Monde“. Dass Berger auch
ein Erzähler von außergewöhnlicher Kraft und poetischer Begabung ist,
beweist der soeben erschienene Prosaband „Spiel mir ein Lied“ mit Nachdruck.
Es ist der – allerdings völlig selbständige – zweite Teil einer geplanten
Trilogie, die mit Mag sein, dass das namenlose Bergdorf, das für vier
der fünf Geschichten Bergers den Hintergrund abgibt, irgendwo in Savoyen,
nahe der Grenze zu Italien, wirklich aufzufinden ist; mag auch sein, dass es
das Dorf ist, in dem Berger lebt oder gelebt hat. Aber das spielt keine
Rolle. „Von bestimmten Einzelheiten abgesehen“, schreibt Berger in einer
Vorbemerkung zu seinem Buch, „könnte dieses Dorf in vielen Ländern der Welt
über die Kontinente hinweg existieren“. Es ist für die Menschen, die hier
leben, die Mitte der Welt und steht für all die anderen Orte, die Menschen
als ihre Heimat empfinden, den ihnen gemäßen Ort der Geborgenheit. Das „Dorf“ als Mittelpunkt der Welt, nicht im
geografischen, sondern in einem ontologischen Sinn als „Heim“ im „Schoß des
Wirklichen“ – das sind Gedanken, die auf Mircea Eliade zurückgehen. John
Berger hat sie aufgegriffen und ausgeführt in seinem Essay „Und unsere
Gesichter, mein Herz, vergängilch wie Photos“, der 1986 auf deutsch
erschienen ist. Dort hat Berger auch notiert, dass er die „Emigration,
erzwungene oder gewählte, über nationale Grenzen hinweg oder vom Dorf zur
Stadt“ für „die fundamentale Erfahrung unserer Zeit“ hält. Und emigrieren
heißt stets, „das Zentrum der Welt demontieren“. Was das für die Menschen,
die fortgehen, für die Menschen, die bleiben, und für jene, die zurückkommen,
bedeutet, dieser Frage spürt Berger in seinen Geschichten nach. Einer von denen, die im Dorf geblieben sind, ist
Félix, der „Glückliche“, es ist der Akkordeonspieler aus der gleichnamigen
Erzählung, mit der das Buch einsetzt. Félix ist unverheiratet, weil die
Frauen seiner Generation, des Landlebens überdrüssig, in die Städte gezogen
sind. Er lebt allein, in der Einsamkeit seines Hofes, mit dem Hund und dem
Vieh, dem er im Stall auf seinem Akkordeon vorspielt. Als seine Mutter starb,
war Félix zweiundvierzig. Die Erzählung setzt rund zehn Jahre später ein: Félix
soll auf einer Hochzeit spielen, und er trifft auf Delphine, eine dralle,
verwitwete Fabrikarbeiterin, die viel lacht, baumelnde Ohrringe trägt und
Félix unverhohlene Avancen macht. Doch die Liebesgeschichte, die der Leser
erwartet, sie endet, bevor sie begonnen hat, und sie endet abrupt. Delphine
erwähnt, dass ihr Mann vor vier Jahren bei einem Autounfall ums Leben
gekommen sei, und die Plötzlichkeit dieses Todes erschreckt Félix: „So
schnell! Er sprach diese Worte mit solcher Endgültigkeit aus, dass sie
verstummte.“ In der Welt, in der Félix lebt, stirbt man anders. In
jener Welt gilt auch einen andere Zeitrechnung, dort ist das Leben – noch
– eingebunden in natürliche Abläufe, und der Tod ist Teil dieses Lebens:
ein langsamer Tod, den man von weither kommen sieht, und dem man sich, wenn
die Zeit reif ist, bereitwillig überlässt. Félix ist noch ganz und gar
gefangen in einer bäuerlichen Welt, deren Rhythmus und Zeitgefühl von der
Natur geprägt sind und sich seit dem Mittelalter nicht entscheidend
verändert haben. Félix ist die einzige der Figuren, von denen dieses Buch
erzählt, die in dieser Weise noch in ihrer Weltmitte verwurzelt ist, alle
anderen sind Emigranten und haben sich von diesem Ideal bereits mehr oder
weniger weit entfernt. Zum Beispiel Boris. Er ist einer von denen, die
fortgegangen sind. Und er kommt zurück, um mit Vieh Geld zu machen. Von der
Zeit erwartet er nichts mehr, von seiner Gerissenheit alles. Sein Plan:
„Mager kaufen, fett verkaufen. Was er dabei unterschätzt, waren die Arbeit
und die Zeit, die zwischen beidem lagen.“ Boris ist zurückgekommen, aber die
Mitte der Welt, seine Heimat, ist unwiederbringlich verloren. Er kann sie
auch in der Liebe zu der Frau aus Lyon, die sich im Dorf niederlässt, nicht
wiederfinden. Dabei verspricht sich Boris viel von ihr: „Auf dieser
unwirtlichen Erde hatte er, im Alter von einundvierzig Jahren, eine Zuflucht
gefunden. Die Blonde war ein Ort, ein Ort, wo das Gesetz der Unwirtlichkeit
nicht galt.“ Das Scheitern dieser Liebe ist ein zweiter Verlust von Heimat,
den Boris nicht verkraftet. Er verendet, gleichgültig geworden gegen die
Welt, verwahrlost und unterernährt. Albertine, die Mutter von Félix, wusste, was mit den
Männern los ist: Sie haben einen starken Rücken, sie sind rücksichtslos, aber
schwach – Gundeigenschaften, die sich „bei jedem Mann auf seine Weise“
zusammensetzen. Albertine wusste auch, dass die Männer Frauen brauchen, die
ihre Schwäche nicht ausnutzen, und sie ahnte vielleicht mehr als sie wusste,
welche Rolle die Musik dabei spielt, als Symptom und als ein Mittel, die
Sehnsucht der Männer zu stillen, nicht nur, wenn die Liebe ausbleibt. „Spiel mir ein Lied“, sagt Albertine kurz vor ihrem Tod
zu Félix, und dieser Satz fällt immer wieder – ein Leitmotiv des Buches. Es
ist kein Zufall, dass Boris am Scheitern seiner Liebe zugrunde geht: Er
verfügt nicht über die Musik – wie Bruno etwa, der Posaune spielende Bauer,
der jeden wählt, der eine Anhebung des Milchpreises verspricht, und mit
seinem Blasmusikverein einen Ausflug nach Venedig macht, oder wie Marius, der
alte Hirte, aus der „Zeit der Kosmonauten“, der einen Sommer lang Augenblicke
des Glücks mit der fünfzig Jahre jüngeren Danielle erlebt, auch wenn der
Singsang, mit dem er seine Tiere ruft, nicht eigentlich musikalisch,
sondern wie „gepresste Schreie“ klingt. Marius weiß, dass das Glück nicht von
Dauer ist. Es fällt schwer, eine der fünf Geschichten dieses
rundum gelungenen Buches besonders hervorzuheben. Sie haben alle ihren
eigenen Zauber und verlocken dazu, mit Lust und Gewinn immer wieder gelesen
zu werden. Eine Erzählung ragt aber dennoch heraus, weil sie die längste ist,
weil der Titel, den sie trägt, „Einst in EUROPA“ gleichzeitig der Titel der
englischen Originalausgabe ist, und vor allem, weil sie die einzige ist, in der
die Liebe gelingt. Diese Geschichte lässt John Berger von einer Frau
erzählen. Odile Blanc, die Bauerntochter – auch sie längst dem
„Dorf“ entwachsen – erinnert sich an ihr Leben, während sie mit ihrem Sohn,
Christian, einem Drachenflieger, hoch über den Orten schwebt, in denen sie
das Leben zugebracht hat. Sie sieht den Hof ihres Vaters, den Fluss, der das
Dorf von der Fabrik trennt, sie erinnert sich an ihren Geliebten, Christians
Vater, der in dieser Fabrik ums Leben kam, und an den Vater ihres zweiten
Kindes, der dort seine Beine verlor. Doch trotz allem: In den Erinnerungen der Odile Blanc,
die während des Drachenflugs zum Gesamtbild eines Lebens voller Höhen und
Tiefen zusammenwachsen, kommt die Hoffnung zum Ausdruck, dass man auch in der
Fremde, auch in einer veränderten Welt, die sich weit von dem bäuerlichen
Ideal entfernt hat, seine Heimat finden kann, sofern man nur das Leben, das
man lebt und gelebt hat, zur Mitte der Welt macht. Diese Hoffnung ist für
Odile am Ende des Drachenflugs mit ihrem Sohn Christian zur Gewissheit
geworden: „Sag ihnen, Christian, sag ihnen, wenn wir auf der Erde landen,
dass es nichts weiter zu wissen gibt.“ John Berger: Spiel mir ein Lied |
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