Detlef
Rönfeldt Veröffentlichungen |
Der Süden, ein Traum
Es ist fast auf den Tag acht Jahre her, seit Peter Hamm
in dieser Zeitung beklagte, dass Julien Green, der französisch schreibende
Amerikaner in Paris, geboren am 6. September 1900, bei uns so gut wie
unbekannt sei. Und Hamm mutmaßte, es sei die „metaphysische Perspektive“
seiner Bücher, die „jüngere Leser in den letzten Jahren vor ihm zurückschrecken
ließ“. Das war – wie gesagt – vor acht Jahren. Die Zeiten haben sich
geändert. Inzwischen wird Julien Green bei uns umfassend wiederentdeckt: als
Romancier, als Dramatiker, als Biograph und Autobiograph, ja selbst als
Reiseschriftsteller. Die ersten einer auf fünfzehn Bände angelegten Ausgabe
seines erzählerischen Werks in neuen Übersetzungen sind erschienen, nach
„Leviathan“ und „Mont-Cinère“ nun „Der andere Schlaf“; Greens Autobiographie,
eines der schönsten Beispiele dieser Gattung, liegt auf deutsch vor –
zweibändig: „Junge Jahre“ und „Jugend“; greifbar sind auch seine Städtebilder
(„Meine Städte. Ein Reisetagebuch“), ein Band mit Streifzügen durch seine
Geburtsstadt („Paris“) sowie Greens Biographie des Franz von Assisi
(„Bruder Franz“) – alles verstreut auf eine Handvoll Verlage; und am Schauspielhaus in Bochum wagte sich Andrea Breth mit
überwältigendem Erfolg an eine Neuinszenierung von „Süden“, dem ersten von
fünf Theaterstücken, die Julien Green geschrieben hat. Es fehlen derzeit
eigentlich nur Greens Tagebücher, die er seit 1926 regelmäßig geführt hat
und die in Auszügen bereits in früheren Jahren auf deutsch erschienen waren. Seit 1986 erleben wir bei uns die Renaissance eines
Autors, der schon Mitte der zwanziger Jahre Kritiker und Schriftstellerkollegen
wie Walter Benjamin, Klaus Mann oder Hermann Hesse – und die Liste ließe
sich fortsetzen – zu Begeisterungsstürmen hinriss. Benjamin etwa schrieb
bewundernde und tiefschürfende, für das Verständnis Greens bis heute
grundlegende Rezensionen von „Mont-Cinère“ und „Adrienne Mesurat“, den
beiden ersten Green-Romanen, Klaus Mann stellte Green neben Kafka, Hermann
Hesse verglich ihn mit Dostojewski, und Georg Kaiser war es, der einem Freund
den „Leviathan“, Greens dritten Roman, mit den Worten empfahl: „Zum zehnten
Male las ich ihn. Ich würde Sie beneiden, wenn Sie die erste Lesung noch vor
sich hätten.“ Und in der Tat: Auch heute noch ist schwer vorstellbar, dass
ein Leser von der Lektüre des „Leviathan“ nicht tief erschüttert und aufgewühlt
wird. Der Hanser-Verlag war gut beraten, seine Green-Edition gerade mit
diesem Meisterwerk zu beginnen. In Frankreich gilt Julien Green heute längst als
unsterblich: Er gehört, als erster und einziger Ausländer, zu den Quarante
Immortels der „Académie Francaise“, nachdem er, um das möglich zu
machen, kurzerhand zum Franzosen h.c. erklärt worden war, und ihm wurde die
Ehre einer Gesamtausgabe seiner Werke in der „Bibliothèque Pléiade“
zuteil, die lebenden Autoren üblicherweise verschlossen bleibt. Green nahm in
der „Académie“ 1971 den Platz des verstorbenen Francois Mauriac ein, und er
ist, wie dieser, ein katholischer Autor, obwohl ihm Erbauungsliteratur
jeder Couleur stets ein Greuel war. Dabei trat er, Sohn protestantischer
Eltern, sogar zweimal in seinem Leben zum katholischen Glauben über: erstmals
1916 , endgültig 1939, nach einer Phase des Zweifels und scharfer Kritik an
der Kirche. Die „metaphysische Perspektive“ seines Denkens, von der Peter
Hamm sprach, tritt in den Tagebüchern Greens und in seiner Autobiographie,
die er 1959 begann und 1974 abschloß, allerdings deutlicher zutage als in
den Romanen, in denen Green düstere Bilder einer gottfernen Welt voller
Leidenschaft und Gewalttätigkeit zeichnet. Ein Schimmer von Erlösungshoffnung
beginnt sich in den Romanen Greens erst spät, etwa von 1950 an, abzuzeichnen. Green selbst jedoch hat sich, kurios genug, eigenem
Bekunden zufolge gerade in den Jahren, in denen er seine schwärzesten Bücher
schrieb, die ersten drei, die er später seine trilogie de l’horrible
nannte, besonders glücklich gefühlt. Und das Erstaunen darüber, dass Green,
der „in der Hölle zu Hause ist wie kein Autor seit Dostojewski“ (Hamm) privat
so ganz anders war, nämlich elegant, freundlich, ausgeglichen, hat schon
Klaus Mann – nachdem er Julien Green in Paris getroffen hatte – erstmals zum
Ausdruck gebracht. Der Autor als Doppelgänger seiner selbst, und die Frage,
welches denn nun der eigentliche Green sei, beschäftigt die Kritik bis
heute. Er wisse nicht, wer seine Bücher schreibe, hat Green
Mann seinerzeit überspitzt gesagt, es sei ein „anderer“, ihm gänzlich
„Fremder“, den er nicht kenne und auch nie kennenlernen werde. Eine
erstaunliche, oft zitierte Aussage, von der Green selbst in späteren Jahren
abgerückt ist, je mehr ihm die ja naheliegende Erkenntnis dämmerte, dass auch
dieser „Fremde“ niemand anders war als er selbst. Allerdings: Auch wenn Green
später eingeräumt hat, dass die Romane seine „eigentliche Autobiographie“
seien, so hat er doch stets darauf beharrt, dass es seine „Träume“ sind, die
er aufschreibe – „die Träume, die meine Bücher sind“ -, „Halluzinationen“
aus unbekannter Quelle. „Träumer mit dem zweiten Gesicht“ hat man ihn
genannt. Und wenn die „Visionen“, die in ihm aufsteigen, auch von
„photographischer Genauigkeit“ sind, so handelt es sich dabei aber um die
zwanghafte und unverrückbare Genauigkeit von Traumbildern, deren Gestaltung
nur begrenzt im Belieben des Autors zu stehen scheint. Ein Traumbild ist auch der neue Roman von Julien Green:
„Von fernen Ländern“ – 1986 in Frankreich und soeben auf deutsch erschienen,
mehr als tausend Seiten lang. In diesem Buch lässt Green die Welt der
amerikanischen Südstaaten, zehn Jahre vor Beginn des Sezessionskrieges, vor
unseren Augen noch einmal auferstehen, und er widmet das Buch der prägenden
Gestalt seiner Kindheit, seiner Mutter, die eine „Tochter des Südens“ war.
Greens Mutter stammte aus Georgia und hat ihre Kinder, die sie in Frankreich
großziehen musste – Greens Vater war Repräsentant amerikanischer
Baumwollexporteure -, zu „Kindern eines Vaterlands“ gemacht, das nicht mehr
existierte. Die Mutter starb, als Julien vierzehn war, doch sie hinterließ
ihm die Vorstellung, dass jenes „ferne Land, der ‚Süden’“, in dem sie ihre
Jugend verbracht hatte, auch seine eigentliche Heimat sei – ein Ort des
Glücks, auch wenn der „Schatten einer Tragödie“ darüber schwebte. Green erzählt in „Von fernen Ländern“ die Geschichte der
knapp sechzehnjährigen Elizabeth Escridge, die 1850 mit ihrer verwitweten
und verarmten Mutter aus Devonshire in England auf die Baumwollplantage
„Dimwood“ in Georgia kommt, um hier, bei reichen Verwandten, das Leben einer Southern
belle zu führen. Die Stationen ihres Wegs: „Dimwood“, die Hafenstadt
Savannah und der Landsitz „Great Lawn“ in Virginia. Elizabeth wird herumgereicht:
bei Tanten, Onkels, Vettern und Cousinen; sie erfährt, dass die Familien
der Südstaaten-Aristokratie vielfältig versippt, verschwägert und
verfeindet sind; sie lernt die Langeweile des Südens ebenso kennen wie
rauschende Ballnächte; sie sorgt, da sie schön ist, für Verwirrung in den
Herzen der Männer; sie verliebt sich, unglücklich, ausgerechnet in jenen
Mann, vor dem sie gewarnt wird wie Rotkäppchen vor dem bösen Wolf, heiratet
einen anderen und endet – nachdem sich Ehemann und Geliebter im Duell gegenseitig
getötet haben – als alleinstehende Mutter. Elizabeth, von Green betont formelhaft „die junge
Engländerin“ genannt, fühlt sich in ihrem Exil „Dimwood“ vom ersten
Augenblick an wie in einem Gefängnis. Überall spürt sie um sich herum Mauern,
vor allem Mauern des Schweigens, gefügt aus Frageverboten und Tabus, mit
denen sich die fröhlich ihrem Ende entgegentaumelnde Gesellschaft des
Südens selbst den Blick auf den Angrund verstellt, über dem sie schwebt. Aber
der Schatten, der auf diese Welt fällt, ist bereits spürbar als eines der
zahllosen beunruhigenden Geheimnisse, mit denen Green Elizabeth umgibt. Die Welt
des Südens ist voller gespenstischer Erscheinungen, voller Zeichen, voller
Helfer und Widersacher. Jeder Mensch, dem Elizabeth in „Dimwood“ begegnet,
jedes Ding, jeder Raum, jedes Bild, jedes Möbelstück – alles ist erst einmal
„geheimnisvoll“ und „rätselhaft“, alles spricht zu ihr in einer fremden, unbekannten
Sprache, die Elizabeth nicht entziffern kann. „Dimwood“ – ein Pandämonium
lauernder Gefahren, eine magische Welt. Elizabeth hat Angst, ohne eigentlich
zu wissen, wovor. Ihre Angst verschwindet auch in Savannah nicht, jener
Stadt, die – Heimatstadt von Greens Mutter – einst „als die eleganteste des
Südens“ galt und in der sich Elizabeth wie in einem „Märchen“ fühlt. Green
wird nicht müde zu betonen (und auch hier wieder: stereotyp), dass in diesem
Märchen alles „bezaubernd“ und „schön“ ist, im gleichen Maße wie in „Dimwood“
alles „geheimnisvoll“ und „rätselhaft“ war. Trotzdem: Auch wenn die
„Fremdheit“ schwindet, je mehr der Süden Elizabeth einfängt – die Angst
bleibt. Der Schrecken, „da zu sein“, ist im Universum Greens – wie bei Kierkegaard
oder Heidegger – untrennbar von der Existenz, der Erbsünde erster Teil. Elizabeth ist knapp sechzehn Jahre alt, als sie in den
Süden kommt, und das ist im Werk Julien Greens eine magische Grenze – das
Ende der Kindheit, das Ende der Unschuld. Green selbst konvertierte in diesem
Alter zum ersten Mal, und Denis, der Ich-Erzähler aus „Der andere Schlaf“,
jener Erzählung von 1931, die in diesem Frühjahr in der Neuübersetzung von
Peter Handke – auch er ein Green-Bewunderer – erschien, ist „etwa siebzehn
Jahre alt“, als sein Leben die für Greens Figuren so typische und unerwartete
Wendung nimmt: „Alles, was in mir schlummerte, erfuhr ein Erwachen, um so
jäher und heftiger, als es so spät dazu kam.“ Dieses Erwachen ist der
Einbruch der Leidenschaft in den Kokon eines weltfernen und unschuldigen
Lebenstraums, es ist die Entdeckung einer zuvor unbekannten „Gier“, für
Greens Figuren stets erster Schritt der erschreckenden Erkenntnis, dass sie
eine „Hölle des Begehrens“ in sich tragen. Das ist der Kern der Geschichte,
die Green immer wieder erzählt: „der Weg der Leidenschaft durch ein
unschuldiges Herz“, der ein Weg unheilbaren Leidens ist, der Passion, denn er
ist der Erbsünde zweiter Teil. Es ist ein Glücksfall, dass „Von fernen Ländern“ und
„Der andere Schlaf“ fast gleichzeitig erschienen sind: Die ein Menschenalter
früher entstandene stark autobiographisch gefärbte Erzählung enthält schon
fast den ganzen Green und sei dem Leser, der sich, als Green-Novize, dem Riesenwerk
nähern will, als Einführung nachdrücklich empfohlen. Wie die frühen
schwarzen Romane (und vor allem eben der „Leviathan“) ist „Der andere Schlaf“
vorzüglich geeignet, Lust auf Julien Green zu machen, eine Art Aperitif, der
den großen Schinken ein wenig leichter verdaulich macht. Es sei nämlich
nicht verschwiegen, dass der Roman „Von fernen Ländern“ die Geduld des Lesers
hier und da auf harte Proben stellt, und das nicht nur, weil er sich in
manchen Passagen dahinschleppt mit der Trägheit der Tage des Südens. „Allzu langen Büchern habe ich noch stets misstraut:
sie sind zumeist ein Zeichen mangelnder Kraft, nicht jedoch, wie allgemein
angenommen wird, großen Fleißes.“ Dieser Satz stammt – von Julien Green. Nun
hat er selbst ein „langes“ Buch vorgelegt, und der Verdacht will nicht
weichen, dass es sich auch hierbei um ein solches Zeichen mangelnder,
zumindest nachlassender Kraft handeln könnte. Wo ist er geblieben, der Julien
Green, der sich einst durch eine bewundernswerte Ökonomie der Mittel auszeichnete?
Wo ist er geblieben, der Autor, der – um nochmals seine eigenen Maßstäbe zu
nennen – davon gesprochen hat, dass man alle Sätze, die nur der Unterhaltung
des Lesers dienen, weglassen müsse? „Von fernen Ländern“ ist zunächst
Lesefutter für viele Stunden, ein Schmöker voller Herzschmerz und Liebesleid,
irgendwo zwischen „Krieg und Frieden“ und „Vom Winde verweht“. Wer so was
mag, wird gut unterhalten. Aber die Schicht von Kitsch, Kolportage und
Trivialität ist so irritierend dick, dass man mehr als einmal meint, sich in
einen Groschenroman verirrt zu haben. Eine Blütenlese banalster Sätze und
Klischees – vor allem in den Liebesszenen – könnte Seiten füllen. Ein Buch
von Julien Green? Man reibt sich verwundert die Augen und ist zugleich kein
bisschen erstaunt darüber, dass dieser Roman – dem Verlag zufolge – in
Frankreich Greens bisher größter Erfolg ist. Der Einblick in die Welt der Südstaaten-Aristokratie
um 1850, den Green uns bietet, ist so umfassend, wie das Gespinst von
Lebenslüge, Verdrängung und Verschweigen – Ferment dieser Gesellschaft – und
die durch den begrenzten, unschuldigen Blick Elizabeths gedeckte Rätseldramaturgie
des Romans erlauben. Die Darstellung der Fassade dieser Welt ist immer wieder
auch von erstaunlicher Anschaulichkeit und frappierendem Detailreichtum. Man
erfährt viel über Interieurs, Kleidung, Speisefolgen, Regeln guten Benehmens
– auch den schwarzen „Dienern“ gegenüber -, und über die Zubereitung jenes
„Julep“ genannten Erfrischungsgetränks aus Minze und Eis könnte ein
Rezeptbuch kaum genauer informieren. Nicht einmal den Titel des Buches, das
Elizabeth liest, verschweigt Green: „Die letzten Tage von Pompeji“ – ein
Hinweis auf das den Südstaaten drohende Geschick, der allerdings in seiner
Überdeutlichkeit ebenso rührend ist wie die aufdringliche Symbolik, mit der
Green – als sich Elizabeths Geliebter und ihr Ehemann duellieren – dem Leser
klarmacht, welche Art von Liebe jeweils gemeint war. Der eine - Jonathan – wird ins Herz getroffen, der
andere – Ned – hat eine stark blutende Wunde im Unterleib. Green lässt uns
raten, wo genau. Zwei Beispiele von vielen. Möglicherweise sind die offensichtlichen Trivialitäten
dieses Romans, die konventionelle Erzählstruktur, die Kolportageelemente, die
Klischees, die immer wieder alles zu verderben drohen, aber nicht zu trennen
von dem, was Green als die besondere Tugend eines Romanciers bezeichnet hat:
die „Naivität“, mit der er an die eigenen Geschichten glauben müsse. „Das
Kind schreibt vor, der Mann schreibt mit“, und er hat sich – ergänzen wir –
möglichst wenig einzumischen. Es komme darauf an, hat Green noch nach
Abschluss seiner Autobiographie betont, trotz aller inzwischen erreichten
Klarheit über den „Sinn der Reise, die man in diesem Leben vollendet haben
wird“, auch weiterhin das Kind sprechen zu lassen, „das in unserem Herzen auf
immer fortlebt“. Kinder bis zum Alter von etwa fünf Jahren sind für
Green ja Träger eines Wissens um das
Absolute, das in späteren Jahren hinter Lebenskulissen verloren geht. Und
wie ließe sich die Fragwürdigkeit dieser Lebenskulissen besser darstellen,
als sie in ihrer ganzen Banalität zu zeigen? Das Fehlen jedes erzählerischen
Raffinements in diesem Roman, in dem die Stimme des Kindes so laut und unverstellt
ertönt wie nie zuvor im Werk Julien Greens, könnte – so verstanden – durchaus
das „Echtheitssiegel“ der kindlichen „Visionen“ sein – dieser vom Autor
unbehelligten Visionen des Kindes in Green, dem die ganze „interessante
historische Rekonstruktion“ der Südstaatenwelt eben nichts anderes ist als:
fragwürdige, banale Kulissen. Aber kein Zweifel: Die Faszination, die sich bei der
Lektüre von Greens frühen Werken immer wieder einstellt, wird von dem neuen
Roman nicht ausgelöst. Zu stark ist spürbar, dass Julien Green den „leitenden
Faden“ seines Lebens längst gefunden hat und dass er nun das bekannte
Repertoirestück mit einem neuen Ensemble von Figuren noch einmal nachspielen
lässt. Was die frühe Erzählung „Der andere Schlaf“ und das Alterswerk „Von
fernen Ländern“ voneinander trennt, ist – neben dem Umfang -, dass in jenem
Frühwerk noch der Leidensdruck eines Autors zu spüren war, der – wie
unbewusst auch immer – im Schreiben dem Geheimnis seines Lebens auf die Spur
zu kommen versuchte. Fünfzig Jahre und zehn Romane später – vor allem aber
nach Abschluss seiner Autobiographie – weiß Green von sich und seinen
Figuren viel zu viel, um auf ihre Entwicklung noch neugierig zu sein oder
neugierig zu machen. Sie folgen ja letztlich ohnehin alle dem gleichen
typisierten Leidensweg: Bis in wörtliche Übernahmen hinein entspricht die
seelische Entwicklung von Elizabeth Escridge Greens eigenem Weg, wie er ihn
in der Autobiographie beschrieben hat, auch wenn er im Roman auf wenige
Augenblicke zusammengedrängt ist. Und so ist dieses Alterswerk, dieser
Bildungsroman einer Seele, trotz der vielen Geheimnisse, die einer gothic
novel oder einer viktorianischen Gespenstergeschichte alle Ehre machen
würden, als Ganzes merkwürdig geheimnislos. Die Bedeutung des Romans „Von fernen Ländern“ liegt trotz
aller Einwände und Irritationen allerdings darin, dass Julien Green damit
seine reale Autobiographie durch ein geträumtes Stück fiktiver Autobiographie
ergänzt hat, in dem er den Bogen schlägt zu den Träumen seiner Kindheit. Der Knabe Julien hatte, bis er sechzehn war, die
Gewohnheit, das Glück in „fernen Ländern“ anzusiedeln. Er träumte sich in
sie hinein, während seien Schwester am Klavier jene Kinderszenen von Schumann
spielte, deren erste den Titel „Von fernen Ländern und Menschen“ trägt: „Das
törichte, das beseligende Weh nach fernen Ländern. Es lässt sich kaum
glaublich machen, wie weithin diese kindliche Vorstellungswelt meine Jugend
beherrschte.“ Der „Süden“, das Paradies seiner Mutter, in das sich
Green im Alter noch einmal hineinträumt, ist eines jener „fernen Länder“ –
weit genug entfernt, um als Inbegriff des Glücks zu erscheinen, noch längst
nicht fern genug allerdings, als dass
nicht auch dort der Weg des Lebens ein Weg des Leidens wäre. Und es scheint
geradezu, als habe Julien Green am Ende seines Lebens die Illusion, in diesem
Traum vom Süden wäre sie heilbar, die Wunde, die das Leben selbst, auch noch
zerstören wollen, um bereit zu sein für den letzten Schritt seiner
Lebensreise: Ganz im Sinne jener Tagebucheintragung aus dem Jahre 1934, in
der es, als Vermächtnis seiner Jugend, hieß, „dass der Tod das schönste aller
fernen Länder sei“, der „hohe Ort“ nämlich – und das schrieb Green 1969 -,
„an dem wir eines Tages, wie ich hoffe, uns in der Liebe verlieren“. Julien Green: Der andere Schlaf Julien Green: Von fernen Ländern |