Detlef Rönfeldt

 

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DIE ZEIT, 7. Oktober 1988

 

Der Süden, ein Traum


Julien Greens Schmöker „Von fernen Ländern“ und eine Neuübersetzung seines kleinen Romans „Der andere Schlaf“

Es ist fast auf den Tag acht Jahre her, seit Peter Hamm in dieser Zeitung beklagte, dass Julien Green, der französisch schreibende Amerikaner in Paris, geboren am 6. September 1900, bei uns so gut wie unbekannt sei. Und Hamm mutmaßte, es sei die „metaphysische Perspektive“ seiner Bücher, die „jüngere Leser in den letzten Jahren vor ihm zurück­schrecken ließ“. Das war – wie gesagt – vor acht Jahren. Die Zeiten haben sich geändert. Inzwischen wird Julien Green bei uns umfassend wieder­entdeckt: als Romancier, als Dramati­ker, als Biograph und Autobiograph, ja selbst als Reiseschriftsteller.

Die ersten einer auf fünfzehn Bände angelegten Ausgabe seines erzäh­lerischen Werks in neuen Überset­zungen sind erschienen, nach „Leviathan“ und „Mont-Cinère“ nun „Der andere Schlaf“; Greens Auto­biographie, eines der schönsten Bei­spiele dieser Gattung, liegt auf deutsch vor – zweibändig: „Junge Jahre“ und „Jugend“; greifbar sind auch seine Städtebilder („Meine Städte. Ein Reisetagebuch“), ein Band mit Streifzügen durch seine Geburts­stadt („Paris“) sowie Greens Bio­graphie des Franz von Assisi („Bruder Franz“) – alles verstreut auf eine Handvoll Verlage; und am Schau­spiel­haus  in Bochum wagte sich Andrea Breth mit überwältigendem Erfolg an eine Neuinsze­nie­rung von „Süden“, dem ersten von fünf Thea­ter­­stücken, die Julien Green geschrieben hat. Es fehlen derzeit eigentlich nur Greens Tage­bücher, die er seit 1926 regelmäßig geführt hat und die in Auszügen bereits in früheren Jahren auf deutsch erschienen waren.

Seit 1986 erleben wir bei uns die Renais­sance eines Autors, der schon Mitte der zwanziger Jahre Kritiker und Schrift­steller­kollegen wie Walter Ben­ja­min, Klaus Mann oder Hermann Hesse – und die Liste ließe sich fort­setzen – zu Begeisterungs­stürmen hinriss. Benjamin etwa schrieb bewun­dernde und tiefschürfende, für das Ver­­ständ­nis Greens bis heute grund­legende Rezensionen von „Mont-Cinère“ und „Adrienne Mesurat“, den beiden ersten Green-Romanen, Klaus Mann stellte Green neben Kafka, Hermann Hesse verglich ihn mit Dostojewski, und Georg Kaiser war es, der einem Freund den „Leviathan“, Greens dritten Roman, mit den Worten empfahl: „Zum zehnten Male las ich ihn. Ich würde Sie beneiden, wenn Sie die erste Lesung noch vor sich hätten.“ Und in der Tat: Auch heute noch ist schwer vorstellbar, dass ein Leser von der Lektüre des „Leviathan“ nicht tief erschüttert und aufge­wühlt wird. Der Hanser-Verlag war gut beraten, seine Green-Edition gerade mit diesem Meisterwerk zu beginnen.

In Frankreich gilt Julien Green heute längst als unsterblich: Er gehört, als erster und einziger Ausländer, zu den Quarante Immor­tels der „Académie Francaise“, nach­dem er, um das mög­lich zu machen, kurzer­hand zum Fran­zosen h.c. erklärt worden war, und ihm wurde die Ehre einer Gesamtaus­ga­be seiner Werke in der „Biblio­thèque Pléiade“ zuteil, die lebenden Autoren üblicherweise verschlossen bleibt. Green nahm in der „Académie“ 1971 den Platz des verstorbenen Francois Mauriac ein, und er ist, wie dieser, ein katholischer Autor, obwohl ihm Erbau­ungs­literatur jeder Couleur stets ein Greuel war. Dabei trat er, Sohn protestan­ti­scher Eltern, sogar zweimal in seinem Leben zum katholischen Glauben über: erstmals 1916 , endgültig 1939, nach einer Phase des Zwei­fels und scharfer Kritik an der Kirche. Die „meta­physische Perspek­tive“ seines Denkens, von der Peter Hamm sprach, tritt in den Tage­büchern Greens und in seiner Auto­bio­graphie, die er 1959 begann und 1974 abschloß, aller­dings deutlicher zutage als in den Romanen, in denen Green düstere Bilder einer gottfer­nen Welt voller Leidenschaft und Gewalt­tätig­keit zeichnet. Ein Schimmer von Erlösungs­hoffnung beginnt sich in den Romanen Greens erst spät, etwa von 1950 an, abzuzeichnen.

Green selbst jedoch hat sich, kurios genug, eigenem Bekunden zufolge gerade in den Jahren, in denen er seine schwärzesten Bü­cher schrieb, die ersten drei, die er später seine trilogie de l’horrible nannte, besonders glücklich gefühlt. Und das Erstaunen darüber, dass Green, der „in der Hölle zu Hause ist wie kein Autor seit Dostojewski“ (Hamm) privat so ganz anders war, nämlich elegant, freund­­lich, ausgeglichen, hat schon Klaus Mann – nachdem er Julien Green in Paris getroffen hatte – erstmals zum Ausdruck gebracht. Der Autor als Doppelgänger seiner selbst, und die Frage, welches denn nun der eigent­liche Green sei, beschäftigt die Kritik bis heute.

Er wisse nicht, wer seine Bücher schreibe, hat Green Mann seinerzeit überspitzt gesagt, es sei ein „anderer“, ihm gänzlich „Fremder“, den er nicht kenne und auch nie kennenlernen werde. Eine erstaunliche, oft zitierte Aussage, von der Green selbst in späteren Jahren abgerückt ist, je mehr ihm die ja naheliegende Erkenntnis dämmerte, dass auch dieser „Fremde“ niemand anders war als er selbst. Allerdings: Auch wenn Green später eingeräumt hat, dass die Romane seine „eigentliche Autobiographie“ seien, so hat er doch stets darauf beharrt, dass es seine „Träume“ sind, die er aufschreibe – „die Träume, die meine Bücher sind“ -, „Halluzina­tionen“ aus unbekannter Quelle. „Träumer mit dem zweiten Gesicht“ hat man ihn genannt. Und wenn die „Visionen“, die in ihm aufsteigen, auch von „photographischer Genauigkeit“ sind, so handelt es sich dabei aber um die zwanghafte und unverrückbare Genauigkeit von Traumbildern, deren Gestaltung nur begrenzt im Belieben des Autors zu stehen scheint.

Ein Traumbild ist auch der neue Roman von Julien Green: „Von fernen Ländern“ – 1986 in Frankreich und soeben auf deutsch erschienen, mehr als tausend Seiten lang. In diesem Buch lässt Green die Welt der amerikanischen Südstaaten, zehn Jahre vor Beginn des Sezessions­krieges, vor unseren Augen noch einmal auferstehen, und er widmet das Buch der prägenden Gestalt seiner Kindheit, seiner Mutter, die eine „Tochter des Südens“ war. Greens Mutter stammte aus Georgia und hat ihre Kinder, die sie in Frankreich großziehen musste – Greens Vater war Repräsentant amerikanischer Baumwollexporteure -, zu „Kindern eines Vaterlands“ gemacht, das nicht mehr existierte. Die Mutter starb, als Julien vierzehn war, doch sie hinter­ließ ihm die Vorstellung, dass jenes „ferne Land, der ‚Süden’“, in dem sie ihre Jugend verbracht hatte, auch seine eigentliche Heimat sei – ein Ort des Glücks, auch wenn der „Schatten einer Tragödie“ darüber schwebte.

Green erzählt in „Von fernen Ländern“ die Geschichte der knapp sechzehn­jährigen Elizabeth Escridge, die 1850 mit ihrer verwitweten und verarmten Mutter aus Devonshire in England auf die Baumwollplantage „Dimwood“ in Georgia kommt, um hier, bei reichen Verwandten, das Leben einer Southern belle zu führen. Die Sta­­tio­nen ihres Wegs: „Dimwood“, die Hafen­stadt Savannah und der Land­sitz „Great Lawn“ in Virginia. Elizabeth wird herum­ge­reicht: bei Tanten, On­kels, Vettern und Cousi­nen; sie erfährt, dass die Familien der Süd­staaten­­-Aristokratie vielfältig versippt, ver­schwä­gert und verfeindet sind; sie lernt die Lange­weile des Südens ebenso kennen wie rauschende Ballnächte; sie sorgt, da sie schön ist, für Verwir­rung in den Herzen der Männer; sie verliebt sich, unglücklich, ausge­rechnet in jenen Mann, vor dem sie gewarnt wird wie Rotkäppchen vor dem bösen Wolf, heiratet einen anderen und endet – nachdem sich Ehemann und Geliebter im Duell gegen­seitig getötet haben – als alleinstehende Mutter.

Elizabeth, von Green betont formelhaft „die junge Engländerin“ genannt, fühlt sich in ihrem Exil „Dimwood“ vom ersten Augenblick an wie in einem Gefängnis. Überall spürt sie um sich herum Mauern, vor allem Mauern des Schweigens, gefügt aus Frage­ver­boten und Tabus, mit denen sich die fröhlich ihrem Ende entgegen­tau­melnde Gesellschaft des Südens selbst den Blick auf den Angrund verstellt, über dem sie schwebt. Aber der Schatten, der auf diese Welt fällt, ist bereits spürbar als eines der zahl­losen beunruhigenden Geheimnisse, mit denen Green Elizabeth umgibt. Die Welt des Südens ist voller gespen­stischer Erscheinungen, voller Zeichen, voller Helfer und Wider­sacher. Jeder Mensch, dem Elizabeth in „Dimwood“ begegnet, jedes Ding, jeder Raum, jedes Bild, jedes Möbelstück – alles ist erst einmal „geheimnisvoll“ und „rätselhaft“, alles spricht zu ihr in einer fremden, unbe­kannten Sprache, die Elizabeth nicht entziffern kann. „Dimwood“ – ein Pandä­monium lauernder Gefahren, eine magische Welt. Elizabeth hat Angst, ohne eigentlich zu wissen, wovor.

Ihre Angst verschwindet auch in Savannah nicht, jener Stadt, die – Heimatstadt von Greens Mutter – einst „als die eleganteste des Südens“ galt und in der sich Elizabeth wie in einem „Märchen“ fühlt. Green wird nicht müde zu betonen (und auch hier wieder: stereotyp), dass in diesem Märchen alles „bezaubernd“ und „schön“ ist, im gleichen Maße wie in „Dimwood“ alles „geheimnisvoll“ und „rätselhaft“ war. Trotzdem: Auch wenn die „Fremdheit“ schwindet, je mehr der Süden Elizabeth einfängt – die Angst bleibt. Der Schrecken, „da zu sein“, ist im Universum Greens – wie bei Kierke­­gaard oder Heidegger – untrennbar von der Existenz, der Erbsünde erster Teil.

Elizabeth ist knapp sechzehn Jahre alt, als sie in den Süden kommt, und das ist im Werk Julien Greens eine magische Grenze – das Ende der Kindheit, das Ende der Unschuld. Green selbst konvertierte in diesem Alter zum ersten Mal, und Denis, der Ich-Erzähler aus „Der andere Schlaf“, jener Erzählung von 1931, die in diesem Frühjahr in der Neuüber­setzung von Peter Handke – auch er ein Green-Bewunderer – erschien, ist „etwa siebzehn Jahre alt“, als sein Leben die für Greens Figuren so typische und unerwartete Wendung nimmt: „Alles, was in mir schlummerte, erfuhr ein Erwachen, um so jäher und heftiger, als es so spät dazu kam.“ Dieses Erwachen ist der Einbruch der Leidenschaft in den Kokon eines weltfernen und unschuldigen Lebens­traums, es ist die Entdeckung einer zuvor unbekannten „Gier“, für Greens Figuren stets erster Schritt der er­schreckenden Erkenntnis, dass sie eine „Hölle des Begehrens“ in sich tragen. Das ist der Kern der Ge­schichte, die Green immer wieder erzählt: „der Weg der Leidenschaft durch ein unschuldiges Herz“, der ein Weg unheilbaren Leidens ist, der Passion, denn er ist der Erbsünde zweiter Teil.

Es ist ein Glücksfall, dass „Von fernen Län­dern“ und „Der andere Schlaf“ fast gleich­zeitig erschienen sind: Die ein Menschenalter früher entstandene stark autobiographisch gefärbte Erzählung enthält schon fast den ganzen Green und sei dem Leser, der sich, als Green-Novize, dem Riesen­werk nähern will, als Einführung nach­drücklich empfohlen. Wie die frühen schwarzen Romane (und vor allem eben der „Leviathan“) ist „Der andere Schlaf“ vorzüglich geeignet, Lust auf Julien Green zu machen, eine Art Aperitif, der den großen Schin­ken ein wenig leichter verdaulich macht. Es sei nämlich nicht verschwiegen, dass der Roman „Von fernen Ländern“ die Geduld des Lesers hier und da auf harte Proben stellt, und das nicht nur, weil er sich in manchen Passagen dahinschleppt mit der Trägheit der Tage des Südens.

„Allzu langen Büchern habe ich noch stets misstraut: sie sind zumeist ein Zeichen man­geln­der Kraft, nicht jedoch, wie allgemein angenommen wird, großen Fleißes.“ Dieser Satz stammt – von Julien Green. Nun hat er selbst ein „langes“ Buch vorgelegt, und der Verdacht will nicht weichen, dass es sich auch hierbei um ein solches Zeichen mangelnder, zumindest nachlassender Kraft handeln könnte. Wo ist er geblieben, der Julien Green, der sich einst durch eine bewundernswerte Ökonomie der Mittel auszeichnete? Wo ist er geblie­ben, der Autor, der – um nochmals seine eigenen Maßstäbe zu nennen – davon gesprochen hat, dass man alle Sätze, die nur der Unterhaltung des Lesers dienen, weglassen müsse? „Von fernen Ländern“ ist zunächst Lesefutter für viele Stunden, ein Schmöker voller Herzschmerz und Liebesleid, irgendwo zwischen „Krieg und Frieden“ und „Vom Winde verweht“. Wer so was mag, wird gut unterhalten. Aber die Schicht von Kitsch, Kolportage und Trivialität ist so irritierend dick, dass man mehr als einmal meint, sich in einen Groschen­roman verirrt zu haben. Eine Blüten­lese banalster Sätze und Klischees – vor allem in den Liebesszenen – könnte Seiten füllen. Ein Buch von Julien Green? Man reibt sich ver­wundert die Augen und ist zugleich kein bisschen erstaunt darüber, dass dieser Roman – dem Verlag zufolge – in Frankreich Greens bisher größter Erfolg ist.

Der Einblick in die Welt der Süd­staaten-Aristokratie um 1850, den Green uns bietet, ist so umfassend, wie das Gespinst von Lebenslüge, Verdrängung und Verschweigen – Ferment dieser Gesellschaft – und die durch den begrenzten, unschuldigen Blick Elizabeths gedeckte Rätsel­dramaturgie des Romans erlauben. Die Darstellung der Fassade dieser Welt ist immer wieder auch von erstaunlicher Anschaulichkeit und frappierendem Detailreichtum. Man erfährt viel über Interieurs, Kleidung, Speisefolgen, Regeln guten Beneh­mens – auch den schwarzen „Dienern“ gegenüber -, und über die Zubereitung jenes „Julep“ genannten Erfrischungs­getränks aus Minze und Eis könnte ein Rezeptbuch kaum genauer informieren. Nicht einmal den Titel des Buches, das Elizabeth liest, verschweigt Green: „Die letzten Tage von Pompeji“ – ein Hinweis auf das den Südstaaten drohende Geschick, der allerdings in seiner Überdeut­lichkeit ebenso rührend ist wie die aufdring­liche Symbolik, mit der Green – als sich Elizabeths Geliebter und ihr Ehemann duellieren – dem Leser klarmacht, welche Art von Liebe jeweils gemeint war. Der eine -  Jonathan – wird ins Herz getroffen, der andere – Ned – hat eine stark blutende Wunde im Unterleib. Green lässt uns raten, wo genau. Zwei Beispiele von vielen.    

Möglicherweise sind die offensicht­lichen Trivialitäten dieses Romans, die konventionelle Erzählstruktur, die Kolportageelemente, die Klischees, die immer wieder alles zu verderben drohen, aber nicht zu trennen von dem, was Green als die besondere Tugend eines Romanciers bezeichnet hat: die „Naivität“, mit der er an die eigenen Geschichten glauben müsse. „Das Kind schreibt vor, der Mann schreibt mit“, und er hat sich – ergänzen wir – möglichst wenig einzumischen. Es komme darauf an, hat Green noch nach Abschluss seiner Autobiographie betont, trotz aller inzwischen erreichten Klarheit über den „Sinn der Reise, die man in diesem Leben vollendet haben wird“, auch weiterhin das Kind sprechen zu lassen, „das in unserem Herzen auf immer fortlebt“.

Kinder bis zum Alter von etwa fünf Jahren sind für Green ja  Träger eines Wissens um das Absolute, das in späteren Jahren hinter Lebens­kulissen verloren geht. Und wie ließe sich die Fragwürdigkeit dieser Lebenskulissen besser darstellen, als sie in ihrer ganzen Ba­na­lität zu zeigen? Das Fehlen jedes erzäh­lerischen Raffinements in diesem Roman, in dem die Stimme des Kindes so laut und un­ver­stellt ertönt wie nie zuvor im Werk Julien Greens, könnte – so verstanden – durchaus das „Echtheitssiegel“ der kindlichen „Visionen“ sein – dieser vom Autor unbehelligten Visio­nen des Kindes in Green, dem die ganze „interessante historische Rekonstruktion“ der Südstaatenwelt eben nichts anderes ist als: fragwürdige, banale Kulissen.

Aber kein Zweifel: Die Faszination, die sich bei der Lektüre von Greens frühen Werken immer wieder einstellt, wird von dem neuen Roman nicht ausgelöst. Zu stark ist spürbar, dass Julien Green den „leitenden Faden“ sei­nes Lebens längst gefunden hat und dass er nun das bekannte Repertoirestück mit einem neuen Ensemble von Figuren noch einmal nachspielen lässt. Was die frühe Erzählung „Der andere Schlaf“ und das Alterswerk „Von fernen Ländern“ voneinander trennt, ist – neben dem Umfang -, dass in jenem Früh­werk noch der Leidensdruck eines Autors zu spüren war, der – wie unbewusst auch immer – im Schreiben dem Geheimnis seines Lebens auf die Spur zu kommen versuchte.

Fünfzig Jahre und zehn Romane später – vor allem aber nach Abschluss seiner Autobio­graphie – weiß Green von sich und seinen Figuren viel zu viel, um auf ihre Entwicklung noch neugierig zu sein oder neugierig zu machen. Sie folgen ja letztlich ohnehin alle dem gleichen typisierten Leidensweg: Bis in wörtliche Übernahmen hinein entspricht die seelische Entwicklung von Elizabeth Escridge Greens eigenem Weg, wie er ihn in der Autobiographie beschrieben hat, auch wenn er im Roman auf wenige Augenblicke zusam­men­gedrängt ist. Und so ist dieses Alters­werk, dieser Bildungsroman einer Seele, trotz der vielen Geheim­nisse, die einer gothic novel oder einer viktorianischen Gespensterge­schich­te alle Ehre machen würden, als Ganzes merkwürdig geheimnislos.

Die Bedeutung des Romans „Von fernen Ländern“ liegt trotz aller Ein­wände und Irrita­tionen allerdings darin, dass Julien Green damit seine reale Autobiographie durch ein geträumtes Stück fiktiver Auto­bio­graphie ergänzt hat, in dem er den Bogen schlägt zu den Träumen seiner Kindheit.

Der Knabe Julien hatte, bis er sechzehn war, die Gewohnheit, das Glück in „fernen Län­dern“ anzusiedeln. Er träumte sich in sie hinein, während seien Schwester am Klavier jene Kinderszenen von Schumann spielte, deren erste den Titel „Von fernen Ländern und Menschen“ trägt: „Das törichte, das beseligende Weh nach fernen Ländern. Es lässt sich kaum glaublich machen, wie weithin diese kindliche Vorstellungswelt meine Jugend beherrschte.“

Der „Süden“, das Paradies seiner Mutter, in das sich Green im Alter noch einmal hinein­träumt, ist eines jener „fernen Länder“ – weit genug entfernt, um als Inbegriff des Glücks zu erscheinen, noch längst nicht fern  genug aller­dings, als dass nicht auch dort der Weg des Lebens ein Weg des Leidens wäre. Und es scheint geradezu, als habe Julien Green am Ende seines Lebens die Illusion, in die­sem Traum vom Süden wäre sie heilbar, die Wunde, die das Leben selbst, auch noch zerstören wollen, um bereit zu sein für den letzten Schritt seiner Lebensreise: Ganz im Sinne jener Tagebucheintragung aus dem Jahre 1934, in der es, als Vermächtnis seiner Jugend, hieß, „dass der Tod das schönste aller fernen Länder sei“, der „hohe Ort“ nämlich – und das schrieb Green 1969 -, „an dem wir eines Tages, wie ich hoffe, uns in der Liebe verlieren“.

Julien Green: Der andere Schlaf
Roman, aus dem Französischen von Peter Handke; Hanser Verlag, München 1988; 120 S. 19,80 DM

Julien Green: Von fernen Ländern
Roman, aus dem Französischen von Helmut Kossodo; Hanser Verlag, München 1988

 

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